Donnerstag, 27. August 2020
When I'm 64
Als Direktorin Novemberregen aus unruhigem Schlaf erwachte, fand sie sich zu einem grimmigen Vogel verwandelt. Oder heißt es "in einen"? Das ist ja immer die Frage, Präpositionen sind ja so eine Sache, wissenschaftlich ist es hochinteressant, was so hinter einer Präposition passiert, und es stiftet nicht selten Verwirrung. Ich hatte neulich sogar die Ehre, zugeschaltet in eine Landespressekonferenz hineinzugeraten, es ging um Nominalkomplemente (vermintes Gebiet, wissen Sie ja) nach Präpositionen und wie man das so schreibt, und weil ja 2020 ist, gab es eine ganz kritische und nicht wohlgemeinte, knallharte, investigative Journalistenfrage, deren Antwort ich aus der Distanz einfach soufflierte und somit den vortragenden Herrn sehr sattelfest in Fragen der höheren Grammatik wirken ließ. Und das mir, niemandem auf der Welt ist die Frage, ob ein Buchstabe groß oder klein ist, ja egaler. Aber ich wollte über Frau N. kurz sagen: Der Satz ist insofern nicht ganz realitätsnah, dass Frau N. ja gar nicht an oder unter (ist das wie an oder mit?) unruhigem Schlaf leidet, daher kann das gar nicht eintreten, und die sogenannte Verwandlung in eine grimmigen Vogel ist auch nur sogenannt eine Verwandlung, es ist schon viel Gutes da.

Das ist ja auch so ein Großbuchstaben-G, das ich mir in Sekundenschnelle grammatisch erschließen muss, ich habe kein Gefühl, ob das groß oder klein sein muss, ich kann es aber herausfinden. Ich denke, ab einem gewissen Alter ist es sowieso sehr vernünftig, wenn man mehr mit Großbuchstaben hantiert. In der digitalen Welt sind die leider durch Schreien und Pöbeln besetzt, aber wie ich seit vorgestern weiß, werde ich noch genau zwei Jahre haben, in denen ich hier überhaupt irgendwas lesen kann. Dann ist vorbei. Die guten Jahre sind rum. Ich war nämlich vorgestern beim Sehtest, da ich nach zwei Jahren doch noch mal gucken wollte, ob ich eine neue Brille finde. Leser von früher werden sich eventuell erinnern, dass ich mir 2010 eine Brille machen ließ, die erste seit 1995. Ich habe eine angeborene Hornhautverkrümmung geerbt und ab 3 mit einem abgeklebten Auge, wie das damals so war, die Sesamstraße mit Lilo geguckt und sonst eine Brille getragen, mit der Prognose, dass die leichte Fehlsichtigkeit mit Einsetzen der Pubertät verschwinden würde. Offiziell entbrillt wurde ich mit 19, was allerdings keine Rückschlüsse auf das Einsetzen meiner Pubertät zulässt. Irgendwas war da falsch prognostiziert. Dann also viele Jahre keine Brille, und 2010 kam dann eine, die nur an meinen Frankfurttagen und nur im Büro zum Einsatz kam. Vielleicht erinnern Sie sich an die Geschichte, wie ich den 3jährigen Ona mal mitnehmen musste, und während ich so vorne im Hörsaal stand und er hinter mir am Pult Dschungelbuch hätte schauen sollen, hörte ich hinter mir kleine Schritte, dann zupfte er mir am Kleid und dachte zu flüstern (er kann bis heute nicht gut flüstern): "Mama, ich finde, du siehst voll schön aus mit der Brille." Eventuell ist dieser Moment alleinverantwortlich für den Lehrermangel in Hessen (gibt es einen? Obwohl, gibt ja immer einen, oder), weil vermutlich 50 angehende Lehrerinnen in dem Moment entschieden, ganz viele Kinder zu kriegen. Die Jungs hat er am Ende des gleichen Semesters dann gekriegt mit einem sehr selbstbewussten "Hey Studenten, könnt ihr eigentlich alle ohne Stützräder Fahrrad fahren?", während ich gerade ein kunstvolles Tafelbild erstellte. Egal, wo war ich.

2010, die Brille entsprach irgendwann nicht mehr der Optik der Zeit, und dank meiner liebevollen Pflege waren die Gläser auch nicht mehr in einem Zustand, dass man noch irgendwas hätte sehen können, also entschied ich mich 2018, eine neue Brille zu kaufen. Ich ging in einen sehr großen Optikerladen, allerdings allein, das war eventuell falsch, ließ meine Augen vermessen und suchte eine Brille aus, die mir gut vorkam. Als ich die Brille abholte, sah mein Mann mich an und sagte den Satz "Du siehst aus, als hättest du das Down Syndrom". Nein, keine Diskussion, ich habe überhaupt nichts gegen Menschen mit Down Syndrom. Aber die Brille und ich sind nicht glücklich miteinander geworden, insbesondere, weil ich gar nichts durch sie sehen konnte. Laut Messung hatten meine Werte sich von Fensterglas links, -0,5 rechts im Jahr 2010 verschlechtert auf -0,5 und -1,25. Das hätte ich gar nicht so gedacht, aber man ist ja nicht immer so aufmerksam mit sich selbst.

Zwei Jahre also wieder keine Brille, aber jetzt ist der Moment gekommen, wo ich denke, es wird Zeit. Aus verschiedenen Gründen, nicht allen, aber mehreren. Also ging ich vorgestern zu einem Optiker, der beim Messen irgendwann sagte "Entspannen Sie sich, das ist kein Wettbewerb", und nein, das war mir schon klar, aber ich habe immer sehr große Sorge, dass ich dann etwas besser oder schlechter finde, was gar nicht sein kann, und dann sagt der Messende "das kann aber gar nicht sein", und dann wäre mir das sehr unangenehm. Ergebnis ist jedenfalls -0,25 und -0,5, und auch wenn er der festen Überzeugung war, ich müsse doch verdammt noch mal Probleme beim Lesen haben, hatte ich leider keine Probleme beim Lesen, prognostiziert ist aber, dass das maximal noch 2 Jahre gut geht. Da wissen wir ja auch, was wir von solchen Prognosen zu halten haben.

Ein Brillenmodell, das mir gefällt, hatte er leider nicht, und da ich sehr genau wusste, was ich möchte, habe ich mir auch gar nicht erst die Mühe gemacht, durch 100 Läden zu laufen, sondern habe mit ihm abgemacht, dass ich ihm ein Gestell bringe, welches ich mir schicken lasse, und er verarbeitet das dann weiter zu einer Brille. Und da ich gelernt habe, ist der Prozess jetzt mehrstufig aufgebaut: ich habe 20 Brillen ausgesucht, die auf 10 reduziert, diese 10 dann modernster KI auf mein Gesicht appliziert und dann von Frau N und Frau C aussuchen lassen, welche 4 zur Anprobe geschickt werden, die sind jetzt gerade geliefert worden, ich habe allerdings noch keine gute Meinung. Mein allergrößtes Hauptproblem mit Brillen sind Bügel. Ich trage keine Applikationen. Nie. Nicht an mir, also kein Schmuck, nicht an Kleidung, also keine sichtbaren Labels und Aufdrucke, und auch am allerliebsten nicht auf Brillenbügeln. Auf dem Bügel meiner Sonnenbrille steht der Name meines Mannes. Das signalisiert unrealistische Besitzverhältnisse. Jedenfalls hat die Brille, die mir von vorne am allerbesten gefällt, leider Nieten auf den Bügeln. Das finde ich sehr schwierig, Nieten bilden mich schlecht ab. Die Brille, die mir am zweitbesten von vorne gefällt, hat leider einen sehr klobigen dicken Schriftzug, immerhin Silber, und eigentlich nett, aber ich will lieber all das nicht. Dann gibt es eine, die toll ist, aber zu breit für mein Gesicht, was ich so schmeichelhaft finde, dass sie ein echter Kandidat sein könnte, aber sie fühlt sich irgendwie schlecht verarbeitet an, das ist auch wieder nicht gut, und dann gibt es eine, die ist eigentlich perfekt, mit wirklich unfassbar schlichten und schönen Bügeln, sie ist von vorne aber leider nicht die mit den Nieten. Einen Umbau werde ich nicht in Erwägung ziehen.

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