Dienstag, 30. Oktober 2012
Wenn ich nicht Mutti bin
sie befinden sich in einem 60er-jahre-hoersaal einer grossen deutschen universitaet. vorne steht das lehrpersonal (ich), in den gestaffelten reihen sitzen viele studenten und gucken interessiert. es ist erst die dritte sitzung des semesters, daher sind alle noch recht interessiert an der show, die die frau vorne liefert. sie redet. 10 min., 20 min., 30 min. dann malt sie ein tafelbild, eine mischung aus kunst und mengenlehre. dann schreibt sie in einen kreis "crap", dann sagt sie leise, dass man "crap" im oeffentlichen dienst ja nicht anschreiben kann und wischt es wieder weg. dann folgt eine schlimme zwangshandlung, die sich allwoechentlich wiederholt, wenn sie in dem raum liest, in dem es noch echte tafeln und kreide gibt. und tafellappen. sie ekelt sich oeffentlich. dann redet sie weiter, irgendwas mit schleiermacher und warum manche sprachen sachen so machen, andere anders. die menschen in den reihen sind hin und hergerissen, haben sie ja noch nie darueber nachgedacht, warum das so ist, und sie sind auch noch nicht 100prozentig davon ueberzeugt, dass das relevant ist. da sie aber keine klausur schreiben muessen, sondern einfach nur sitzen und zuhoeren, bleiben sie ruhig und fragen zu keinem zeitpunkt, ob das relevant sei (spoiler alert: in den naechsten wochen werden 10 von 50 nur noch koerperlich anwesend sein, geistig sind sie auf facebook. wenn es ein gutes semester ist, dann sind weitere 10 hinterher davon ueberzeugt, dass das alles furchtbar interessant sei. die weiteren 30 sind die, denen egal ist, ob das relevant ist, die werden zuhoeren und die werden es lernen, sich irgendwann dazu pruefen lassen, dann lehrer werden und alles vergessen. aber die sind eigentlich die angenehmsten.)
die zappelige frau vorne redet weiter, kommt innerhalb von wenigen minuten von "ich geh bahnhof" auf den prozess der unsichtbaren hand des oekonomen adam smith, und was das alles mit autos und kasusmarkierung zu tun hat. dann reibt sie wieder zwanghaft die haende, macht einen in ihren fachkreisen wirklich lustigen witz mit den woertern "occam's razor" und "complementary distribution", dann merkt sie, dass der nicht angekommen ist, erklaert folgerichtig occam's razor und komplementaere distribution, benutzt dann wieder den tafellappen, ekelt sich, und schwenkt dann zur kasusmarkierung im lateinischen, kommt sie doch aus der generation, in der philologen noch latein konnten. auf die aufforderung, die menschen in den reihen moegen sich doch bitte mal kurz die lateinischen kasusparadigmen vor augen holen, starren alle irritiert. dann rechnet sie kurz, in welchem jahr sie sich befindet und fragt das plenum, wie viele latein gelernt haetten. einer. sie reagiert erschrocken und wirft ein, latein sei ihre erste fremdsprache gewesen. jetzt reagiert das plenum erschrocken. sie muss etwas sagen, um die allgegenwaertige schocksituation zu durchbrechen und sagt: "i used to be a nerd." 100 augen durchbohren sie. sie guckt auf den tafellappen. und sieht im augenwinkel das tafelbild. "okay, i AM a nerd." und alle nicken.

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Na komm'Se: Und alle vier Semester ist da die eine Studentin, die mit leuchtenden Augen zuguckt und -hört, hin und wieder kichert, sich nach ein paar Wochen auffällig unauffällig auf dem Gang der Lehrstuhlbüros rumdrückt, über die Sie in der Bibliothek am Regal mit den neuesten linguistischen Fachzeitschriften stolpern. Wehe, Sie kümmern sich nicht um die!

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die wird sofort bei den anderen hiwis angekettet!

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Mich überkommt beim Mitlesen die Verzweiflung wegen ekeligem Tafellappen und ich möchte ganz dringend ein paar Packungen Pampers Feuchttücher reichen, die ein vollständiges Ignorieren solcher Lappen ermöglichen. Ja, ich weiß. Der restliche Inhalt war der relevante. Aber ich denke jetzt nur noch an dieses schimmeligfeuchte Restmüllgefühl von alten Tafelreinigungslappen. Wuhäää.

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Das wird das sein, was noch nach Jahren bei allen 50 Studenten in Erinnerung geblieben ist: Dozentin ekelt sich vor Tafellappen!
Immerhin nehmen Sie etwas mit aus Ihrer Veranstaltung.

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Da haben die Studis wenigstens was fürs Leben gelernt: Diese Tafellappen und -schwämme sind tatsächlich eklig. Und die Finger fühlen sich danach auch immer ganz fies an, wenn man die in der Hand hatte.

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Die haben kein Latein gehabt???? ALLE nicht??? Das gibt es doch gar nicht. Was machen die dann da???
Ich merke schon, diese verweichlichte Generation gefällt mir nicht. ;-)

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Die wussten ja auch alle nicht, wer O*na*n ist. *petz*

(Sternchen drin für den optimistischen Fall, dass ein Seminarteilnehmer das nachträglich ergoogeln möchte - wobei, einige Teilnehmer googelten ja im Seminar und guckten Wörter bei Leo nach, alles anders heute -
nicht, dass der dann hier landet...)

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Hahaha. Naja, solange sie wissen, wie man die damit verbundene Tätigkeit ausübt, besteht ja noch Hoffnung, dass sie nicht zu frustrierten Amokläufern werden...

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Tafellappen sind zweifellos ekelig, sehr ekelig sogar. Damit überträgt man Krankheiten von Mensch zu Mensch, sie sonst keiner kennen würde.
Bin ganz auf Schwamm und Abzieher aus dem Baumarkt umgestiegen. Und der Schwamm liegt so am Rande des Waschbeckens, dass er immer gut ablaufen kann.
Die Schüler bekommen genaue Anweisungen, wie zu wischen ist: Abziehen der nassen Tafel, quer mit dem Abzieher. Der ausgewaschene Schwamm muss immer drunter gehalten werden, damit der Siff nicht auf den Boden oder die Schuhe läuft.
Reicht das für Nerd?

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Mich täte ja viel mehr der Witz interessieren. Da ich aber weder Latein noch fachkreisisch gelernt habe, fürchte ich, den nicht wirklich zu verstehen.
Hat Occam nicht diese Dönerbude bei Ihnen um die Ecke?

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Hach. Ich habe – zumindest in meiner womöglich glorifizierenden Erinnerung – jede Stunde germanistische Linguistik genossen, wohl mehr als die meisten Lehramtsstudentinnen um mich herum. Aber die hatten sich das ja auch nicht als Wunschnebenfach zu Informatik ausgesucht.

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wenn man frau novemberregen, die ja auch mal bei mir veranstaltungen besuchte, glauben schenken kann, macht das mit mir da vorne auch spass. und die mathe/linguistik (oder wie ich informatik/linguistik) kombinierer, die sind mir die liebsten. die erschrecken nicht so schnell, wenn man mal ein bisschen abstrakter ohne gender wird...

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