Sonntag, 6. Mai 2012
Dies ist keine Kindesentfuehrung
im zug von der arbeit nach hause. der zug ist voll, doch ich habe noch vor dem schlafengehen eine deadline und daher das unumgaengliche problem, dass ich sitzen muss, da ich sonst nicht tippen kann. beim einsteigen sichere ich mir also mit beckerhecht schon auf dem bahnsteig einen der begehrten zweier, am fenster reserviert ab naechstem halt, die kommen aber eh nie, am gang frei. riechende maenner kann ich abwimmeln mit dem satz "nein, der ist besetzt, leider..", dann 10 minuten entspanntes arbeiten.

naechster halt, der reserveur kommt nicht. dafuer ein indischer mann mit einem kleinen jungen, mutmasslich etwas juenger als die eigene brut, auf jeden fall unter 3. der mann fragt in indischem englisch (love it!), ob das kind neben mir sitzen koenne. ich bin kurz verwirrt, sehe natuerlich sofort ein, dass ich dem vater ja dann auch den zweiten sitz anbieten sollte, denke an die deadline und was passiert, wenn ich zuhause ankomme und dem kind sage, ich muesse jetzt arbeiten statt kuemmern, und sage: "natuerlich."

das kind sitzt. bis zum naechsten halt ist es ueber eine stunde, und ich bin beeindruckt. niemals wuerde ona auch nur eine minute neben einer komischen fremden frau zugfahren, und ohne drama wuerde er auch nicht neben einer bekannten frau, zum beispiel mir, eine stunde ruhig am fenster sitzen (unsere schuld, sehen wir ja auch jetzt ein mama, jaja.) der vater sucht sich also einen platz in einem ganz anderen waggon und laesst sein kind neben mir sitzen.

und das kind sitzt. es sitzt einfach nur da und guckt mich an. ins gesicht, waehrend ich tippe. obwohl ich grundsaetzlich kindern gegenueber ja kritisch eingestellt bin, ist dieses allerdings ganz niedlich, und seine situation ruehrt ein wenig in meinen hormonen. ich spreche es also an. es reagiert nicht, und nach der 4. sprache hoere ich zwangslaeufig auf. wir sprechen keine gemeinsame sprache. ich zwinkere ein bisschen, grinse wie auf drogen, doch das kind guckt nur. ich tippe wieder. das kind guckt weiter. ich tippe weiter, das kind popelt. da haetten wir also eine universalie.

still tippen und popeln wir also vor uns hin, und irgendwann guckt das kind aus dem fenster. ca. 45 minuten. ein paar mal kontrolliere ich, ob es noch atmet, aber es scheint soweit in guter verfassung zu sein. ich kann es nicht glauben und vergleiche mit leichtem groll immer wieder das eigene bewegungsfreudige kind mit diesem musterexemplar der selbstbeherrschung.

dann irgendwann zieht es seine nase hoch. und noch einmal. und noch einmal. ich tippe ihm auf die schulter, ohne erfolg. ich beuge mich einmal ganz um ihn herum und stelle fest: kind heult. sehr beherrscht, wohlgemerkt. ich werde hektisch. noch ca. 5 minuten bis koeln, und wo ist denn bloss der vater, nicht, dass der in koeln aussteigt und das kind vergisst. ausserdem ist es offensichtlich traurig. ich beschliesse zu handeln. der mann auf der anderen seite des ganges liest zeitung. ich frage ihn, ob er kurz auf das kind aufpassen koenne, ich kaeme sofort wieder. nein, er muesse ja jetzt raus, da koenne er leider nicht auf mein kind... neinnein, nicht MEIN kind, EIN kind, ich kenne das kind nicht, der vater ist verschwunden, etc... der mann schuettelt den kopf und ich laufe einfach los.

im naechsten wagen stehen schon alle im gang. ich verstehe das ja immer nicht. flugzeug, zug, was finden die leute daran, immer schon 10 minuten vorher unbequem im gang zu stehen? ich persoenlich stehe ja immer erst auf, wenn alle schon zuhause sind. jedenfalls stehen schon alle rum und ich werde zunehmend hektischer. ich mache kehrt und laufe zurueck zum ausgangsort: kind weg. einmal recken und schon ist klar, dass es sich einfach alleine in die reihe derer, die in ca. 2 minuten in koeln aussteigen wollen, eingereiht hat. nein. das geht nicht. ich kenne das kind nicht, doch ich kann nicht verantworten, dass es ausgerechnet in koeln alleine aussteigt, wo es doch keine sprache spricht. ich sammele mich, gehe zum kind und halte ihm meine hand hin. ein ausdruck des grauens in seinen augen. ich sage irgendetwas verzweifeltes und nehme seine hand. es weint. ich zerre ein bisschen, es zerrt zurueck, ich versuche, unauffaellig zu sein, und spaetestens jetzt starren alle mich an. eine aeltere frau sieht sehr bestimmt aus und ruft durch das halbe abteil, ob das denn mein kind sei, und hey, was ich denn mit dem kind mache. ich habe einen schlimmen kontrollverlust.

zum glueck rede ich beruflich vor grossen menschenansammlungen. ich richte mich also auf, strecke brust raus und ziehe den bauch ein, erhebe meine sonore stimme und spreche mitten im ice laut folgende worte:

"meine damen und herren, wenn ich kurz um ihre aufmerksamkeit bitten duerfte. dies ist keine kindesentfuehrung. ich kenne dieses kind nicht und verfolge auch nicht den plan, es mit nach hause zu nehmen. es wurde lediglich neben mich gesetzt, und nun ist sein vater verschwunden. das kind will in koeln aussteigen, doch das muessen wir verhindern." waehrend ich gerade zu einem pathetischen "wir muessen jetzt alle zusammen bla" anheben will, kommt der voellig verwirrte vater aus der gegenrichtung durch das gedraenge auf uns zu. ich verstumme, werde rot, sage "he's very sad", drehe mich um und fluechte mich auf meinen sitz, wo natuerlich waehrend der letzten 10 minuten laptop, smartphone und handtasche unbeaufsichtigt rumlagen. ich moechte sterben.

bis duesseldorf habe ich mich soweit wieder gesammelt, dass ich dem kind noch tschoe sagen kann. auf dem bahnsteig will mich auch keiner verhaften.

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Muahahahaha!!!

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Muahahahaha!!!

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frau n: sie waeren ja eine viel wahrscheinlichere kandidatin gewesen fuer dieses vorkommnis.

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Ja, das habe ich auch gleich gedacht. Umso größer meine Begeisterung, dass es jemand anderem zugestoßen ist!

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Wahnsinn!
So ähnlich müssen sich Ihre Nachbarn von Gegenüber manchmal fühlen...

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Ja. Doch. Amüsant. :-)

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