Mittwoch, 19. August 2020
Take Five
Da ist die Werbung alles nix und der Kenner entscheidet, das hört man heutzutage in meiner Branche wirklich oft. Und was soll ich sagen: Richtig ist das. Haben Sie mal versucht, einer Zielgruppe von über-40Jährigen neue Monatshygieneartikel anzupreisen? Ich schon. Totgeburt. Natürlich. Hab ich auch von Sekunde 1 gesagt, als jemand mitten aus der Zielgruppe, aber dann denken Leute ja, ich wäre die Ausnahme, weil ich Veränderung ja selten schätze. Ich habe aber leider in dem Punkte Recht. Etwa mit 20 hat die durchschnittliche Frau verstanden, wie der ganze Themenkomplex untenrum zu verstehen ist, und die nächsten 30 Jahre macht man einfach alles so, wie man das mit 20 überlegt hat, Produkte, Dosierung Ibuprofen, alles immer jeden Monat gleich. Dann kann man seinen Kopf nämlich für andere Dinge benutzen und muss sich auch nicht weiter mit der Evaluation von Werbung beschäftigen. Also ich schon, aber nicht privat. Ich bin die eine Person in Deutschland, die nicht beworben werden kann, ich interessiere mich einfach nicht für Dinge. Heute zum Beispiel kaufte ich einen Nagellack. Chanel Rouge Noir. Den habe ich zum 18. Geburtstag geschenkt bekommen, seitdem ist das halt mein Nagellack, er ist nämlich hübsch und hält lange. Das war etwa 25 Jahre sehr praktisch, wenngleich - und damit bin ich über jeden Zweifel des Product Placements erhaben - das ein mittelgutes Produkt ist. Es gibt bessere. An jeder Arbeitsstätte und an jedem Wohnort (auch bei Frau N.), sowie auf jeder Staatsexamensklausur, die ich je korrigiert habe, sind dunkelrote Striche, die werden nämlich hinterlassen. Das ist nicht gut, es gibt aber leider keine Alternative, denn nach 25 Jahren scheidet jede andere Farbe aus, sonst gucke ich auf meine Hände und denke "OMG, von wem sind die denn?" Ich habe dann mal in einem Kundenumfeld aus der Rubrik Bunt und Schön gearbeitet, da war die Geschäftsführerin so gepolt, dass sie beim Kennenlernen an Menschen roch. Nun neige ich nicht zu BO, aber das war schon sehr anstrengend, da eine Note zu finden, die gleichzeitig Kompetenz und Verlässlichkeit ausstrahlte. Zudem sollten, so das Briefing, die Nägel lackiert sein, aber bitte nicht rot, das sei nuttig. Seitdem habe ich noch die Variante "oxidierte Leberwurst", die war gepflegt und unaufdringlich genug. Ich kam mit der Geschäftsführerin gut klar.

Ich weiß jetzt auch nicht wirklich, wieso ich diese Richtung eingeschlagen habe, aufgrund meiner absoluten Festgelegtheit bin ich ja sehr wenig mit den entsprechenden Themen befasst. Schuhe waren da in der Vergangenheit schon schwieriger. Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, aber ich hatte, nicht ganz frauenuntypisch, so ein Ding mit Schuhen. Sehr früh habe ich verstanden, dass die Bild/Ton-Schere zu sehr günstigen Überraschungseffekten führt, wenn jemand in guten hohen Schuhen (immer geschmackvoll, bitte) über formale Logik spricht. Ich saß mal in der ersten Reihe in einem Vortrag eines bedeutenden niederländischen Fernsehphilosophen, der mittendrin mein Schuhwerk komplimentierte (für Frau Schüssler: Fluevog Merrilee. Ich bin bis heute sehr stolz auf meine Reaktion. Ich habe gelangweilt geguckt und genickt.) Zudem trug ich gern und viel Schwarz, und das konnte man ein wenig - beim Friseur würde man sagen - aufpeppen. Doch dann passierte leider vor 3 Jahren was Dummes, ich fiel die Treppe runter und freute mich sehr, dass ich mich nicht am Küchentresen dekapitiert hatte, doch leider hatte ich (Medizinchinesisch, allerdings in dem Fall sehr explicit) eine Komplettsprengung des Fußgelenks erlitten, das heißt stark vereinfacht: Alle Knochen durch, alle Bänder durch. Im Prinzip ist das Fuß ab mit noch Haut drum. Nun profiliere ich mich ja ungern durch Leid, aber das war trotz vieler Schrauben und allem ein sehr schwieriger Prozess, der letztlich zu dem Entschluss geführt hat, als ich nach 10 Monaten die Krücken in den Keller brachte, dass ich vermutlich ab sofort im Schnitt 8 cm kleiner bin. Und damit lebe ich gut. Turnschuhe habe ich ja vorher schon gerne getragen, ich brauchte nur eine businesstaugliche Variante, und die fand ich in dreifarbigen Schnürschuhen englischen Formats. Ich möchte sagen: Ich habe die Clownschuhe nach Deutschland gebracht, denn nicht nur besitze ich selber jetzt eine mittlere zweistellige Anzahl an dreifarbigen Clownschuhen, sondern ich missioniere auf Nachfrage auch eifrig. Auf Branchenveranstaltungen tragen jedes Jahr mehr Frauen Clownschuhe und kommen dann zu mir und sagen "guck mal, ich hab die jetzt auch". Schade eigentlich, dass man aufgrund der aktuellen Situation gar keine Schuhe mehr braucht.

So, das mit dem von Frau N. vorgegebenen Satz hätten wir jetzt wohl erledigt, dann kann ich auch noch was schreiben, wozu ich Lust habe. Ich habe mir ein System überlegt, wie ich mit den Überschriften verfahre. Ich denke mir ja gerne Hintergrundmusik zu Situationen, wenn es sich einrichten lässt, höre ich die dann sogar. Ich würde für den Moment als Überschrift immer den Titel eines Liedes nehmen, das mir zum Thema einfällt. Mal sehen, ob das trägt. Ich habe heute gleich drei Lieder gehabt, die mir gut den Tag strukturiert haben. (Vielleicht gönne ich mir einfach den Luxus, die allabendliche Frage von Frau N. hier in Buchform zu beantworten. Obwohl, nein.)

1) Ich saß mit meinem Kompagnon in der Küche an der Theke und wir spielten Agentur. Dann erhielt ich eine Email von einem Kollegen. Ich kann nicht viel zitieren, aber ein kleines bisschen: "Schön, dass du dich engagierst und halte es bitte aus, mit Menschen zu tun zu haben, die nicht mit geistreichen Impulsen von Frauen (schlimm, dass man das so auf den Punkt schreiben muss) umgehen gelernt haben. Holla." Ich denke, es ist alles gesagt. Was mich ein bisschen irritiert, ist ja folgende Frage: Mit 25 war ich wissenschaftliche Assistentin und wurde von 64jährigen Fossilen zusammengestaucht. Mit 35 war ich Professorin und wurde von 64jährigen Fossilen zusammengestaucht. Mit 44 bin ich offiziell erwachsen, und okay, jetzt streite ich mich mit 70Jährigen, aber die eigentliche Frage ist ja die: Wo zur Hölle sind denn bitte die anderen Alterskohorten? Ich möchte mal mit 40Jährigen arbeiten. Oder mit 50Jährigen. Warum muss ich mein ganzes Leben lang nur mit Fossilen arbeiten? Und wie alt muss ich denn werden, um nicht mehr das Mädchen zu sein? Ich verstehe es nicht, sehe aber, dass wir das in dem Rahmen hier nicht besprechen können. Mein Kompagnon machte dann Musik an. Samuel Barber, Adagio for Strings. Das war gut gegen Puls und wurde bei der Beerdigung von Kennedy schon gespielt, das kann auch die Hintergrundmusik sein, wenn wir die Emanzipation beerdigen. Why not.

2) Das zweite Lied kam mir kurz danach zugeflogen, die Assoziationskette kann ich nicht mehr genau herleiten, aber vermutlich lief es über Schuhe und irgendwas mit Feminismus und Pink, und dann fiel mir Pink Moon von Nick Drake ein. Dann habe ich die CD gesucht (gelogen, CDs sind im Keller) und Pink Moon gehört, und dann dachte ich 'toll, ich hör das jetzt wieder ganz durch", dann wurde mir Mitte des zweiten Liedes, das ja wie das erste und das dritte klingt, langweilig, und ich hörte was anderes. Alle 10 Jahre kann ich Pink Moon hören und finde es eine Runde lang toll, für mehr reicht meine New-Media geschädigte Aufmerksamkeitsspanne leider nicht mehr.

3) Ich finde es ja immer sehr befriedigend, wenn man den Bogen wieder zurückgeschlagen kriegt, und ein Vorteil, wenn man 8 Jahre nicht gebloggt hat (oder so ähnlich) ist ja, dass Sie alles nicht miterlebt haben. So zum Beispiel die Beerdigung meines Vaters vor 12 Monaten. Damit kann ich jetzt 1) und die Clownschuhe zusammenführen. Kein Beileid, alles gut, er hat lange darauf hingearbeitet, somit war das alles in Ordnung. Mein Vater war im Herzen Musiker, hat Jazztrompete studiert, um dann später für den Broterwerb was anderes zu machen, aber für seine Beerdigung hat er sich einen Trompeter gewünscht. Liedwahl hat er mir überlassen, of all people. Ich habe Autumn Leaves gewählt bei der Beisetzung, aber das war gar nicht sein Lied, der Trompeter konnte aber nicht viel trotz teuer. Für sein Lied, das wir ihm nach der Predigt in der Kirche gespielt habe, habe ich mir Schuhe gekauft, nämlich die Clownschuhe, die ich sonst in dreifarbig trage in einfarbig, schwarz Lack. Das fand ich passend. Nach dem letzten Kirchenfirlefanz haben wir ihn also überrascht und sein Lied (vom Band, Trompeter war ja schlecht) spielen lassen, welches 50 Jahre lang sein Lied war, und während viele Leute ein wenig verstört waren und meine Mutter sich auflöste, haben meine Schwestern, Ona und ich das gemacht, was er sich gewünscht hätte. Augen zu, lächeln und Rhythmus.

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(Das war ja süß, als ich schrieb, seit meinem 18. Geburtstag, also seit 20 Jahren, hätte ich den gleichen Nagellack. Ist korrigiert.)

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Von Nick Drake zu "Autumn Leaves" wird es aber deutlich herbstlich hier. Es stimmt aber, um letzte Lieder sollte man sich vielleicht besser beizeiten kümmern. Und um die Interpreten.

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Naja, den Gefallen hat er uns ja gar nicht getan, er hatte nur ein Lied bestellt. Ich wäre da expliziter. Ich müsste mal nachdenken, aber länger als 10 Minuten bräuchte ich zu diesem Zeitpunkt ja nicht, um was auszusuchen. Und es kommt ja nix nach... Vielleicht mach ich das mal. Wenn ich das dem Kind überlasse, werde ich zu K-Pop zu Grabe getragen. Das wäre mir nicht recht.

Und wenn ich jetzt auch noch Lieder jahreszeitlich (eventuell noch regional?) angemessen auswählen muss, wird es mir wieder etwas anstrengend. Ich kann allerdings jetzt schon mal hoch und heilig versprechen, dass der Tag nicht mehr kommt, an dem wir hier White Christmas summen.

Was tatsächlich schön war an Take 5: Wir mussten wippen, haben geschnippt und geschaukelt, dabei geheult und gelacht. So würde ich das auch wollen. Aber ich hab nicht so ein gutes Lied, das mich so abbildet.

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Wenn ich mir was wünschen dürfte, reichte mir ein Quartett aus Patti Smith, PJ Harvey, Viv Albertine und Max Sharam. Da bleibt doch kein Auge trocken. Nur beim Lied bin ich noch uneins.

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Ich glaube, ich würde wollen, dass man Spaß hat. Trockenes Auge ist eh nicht. Ich war einst leider auf der Beisetzung eines jungen Kollegen. Dessen Frau hat alles an Rockballaden rausgeholt, was es gab. With or without you. Ich würde das anders wollen. Ich denke noch mal nach. (Eventuell leihe ich until further notice das Lied meines Vaters. Ich möchte, dass die Leute mit dem Fuß wippen, das macht fröhlich.) Aber ich bin weniger herbstlich orientiert als Sie. Da sind Menschen unterschiedlich.

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Benuetzen Sie denn keinen Überlack?!

Wenn ich Ihnen nur einen Ratschlag mit auf den Weg geben dürfte. Er würde Überlack lauten. Der langfristige Nutzen von Überlack ist wissenschaftlich erwiesen. Überlack. Benutzen Sie Überlack.

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Ah, vielen Dank. Ich habe vor vielen vielen Jahren mal Überlack gekauft - und ich nehme an, in der Zwischenzeit ist auf dem Gebiet sehr viel passiert - da musste man erst mal den Lack trocknen lassen, dann den Überlack applizieren und den dann 60 (!!) Minuten trocknen lassen. Als ich auf der Party ankam, waren nur noch Nerds übrig.

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Leider ist es immer noch so. Aber wenn man es gut plant, hat man 60 Minuten in denen man absolut wehrlos ist. Wenn man das seinem Menschen [m/w/div] ankündigt, dann können das interessante 60 Minuten werden. Ich kann das empfehlen. Funktioniert aber vielleicht nur am Anfang einer Ehe, das weiß ich noch nicht.

Und es tut mir trotzdem leid. <3
Auch wenn ich von Jazz Zahnschmerzen bekomme. [Außer bei Dizzy Gillespie, das ist der mit den dicken Backen, lachst dich kaputt, nicht nachmachen, da fliegt einem die Aorta raus, Salt Peanuts, die alte Version mit der Big Band; aber nur weil ich es so lustig finde, wie er salt peanuts sagt.]

Die Trompaune als solches geht ja immer noch. Aber das SaXophon hab ich nur gern, wenn er es endlich verkauft. [Außer das von Charlie Parker in Relaxin' at Camarillo, das war eine Irrenanstalt und wenn sie mich fragen, gehört der Jazz da auch hin oder kommt von dort. Das weiß ich auch nicht so genau. Ich bin nicht belesen.]

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Das ist mir unerklärlich, wie das mit den dicken Backen ging. Ich wurde leider auch an die Trompete geprügelt, war aber wehrhaft und habe mich irgendwann verweigern dürfen. Bis dahin spielte ich ohne dicke Backen und mit 12 im Blechbläserchor der Schule mit 8 Physik- und Biolehrern. Nicht divers. Ich hab’s nicht immer leicht gehabt. Ach, und Günther aus der 10. war auch dabei. Tuba.

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