Sonntag, 18. Oktober 2020
Zu viel Information
"Lasst uns doch mal ,freche‘ Interview-Einstiegsfragen an Männer sammeln", fordert Teresa Bücker via Twitter auf, und da würde ich mich ja theoretisch nicht zweimal bitten lassen. Hätte ich als Frau nicht große Angst, dass ich durch permanente Bitterkeit den Alterungsprozess der Haut vorantreibe. Das kann sich die moderne Quotenfrau nicht leisten, und anders als bei Quotenmännern machen graue Schläfen und Falten Frauen ja nicht interessant, sondern alt. Nun gut.

Würde ich jemals in die Situation kommen, dass ich einen führenden Wissenschaftler zu dem den gesamten Erdball in Schach haltenden Pandemiegeschehen interviewen müsste, würde ich mir selbstverständlich auch einen frechen Einstieg überlegen. In etwa so: "Hallo Herr X., das ist Ihnen schon klar, dass Sie diesen Job nur deshalb bekommen haben, weil alte weiße Männer nun einmal nur alte weiße Männer berufen? Was macht das mit Ihnen?" gefolgt von "An einzelnen Stellen im Prozess reagieren Sie unnötig cholerisch. Liegt das daran, dass Sie nur 1,73m groß sind? Oder haben Sie zuhause nicht die Hose an und müssen deshalb im Job so richtig auf den Putz hauen?" vielleicht gefolgt von irgendwas, das nahelegt, dass entweder seine Frau ihn nicht mehr ranlässt, oder er dann nicht wie gewünscht performt. Dann Bogen zurück zur Qualität seiner Arbeit, Kinder können wir weglassen, danach werden ja grundsätzlich nur Frauen befragt, und voila, schon haben wir einen frechen Einstieg und können uns von dort aus um die wirklich wichtigen Dinge im Leben kümmern.

Jetzt wollte ich erklären, dass ich das alles ja aus persönlicher Erfahrung so anstrengend finde, und dann fiel mir ein, dass ich einen großen Showdown vor vielen Jahren hier sogar mal verklausuliert wiedergegeben habe, und durch schlaues Suchen fand ich den Text sogar wieder. Zu meiner großen Enttäuschung (und auch ohne nachvollziehen zu können, warum ich das gemacht habe) musste ich feststellen, dass ich in dem Eintrag zwar die Abläufe und die Stimmung recht gut wiedergegeben habe, dass der alles entscheidende Hauptsatz, den ich in den letzten 9 Jahren nur zu oft zitiert habe, in dem Text allerdings fehlt. Vermutlich, weil mir das alles zu unangenehm und peinlich war. Daher ergänze ich einfach 2020 (wer mich besser kennt, kann den Satz seit Jahren im Chor mitsingen):

"Wie wollen Sie sich denn bitte als Frau am Fachbereich Mathematik durchsetzen??" (Ich wäre die einzige Professorin gewesen). Das war die erste, vorgeschaltete Frage des Kommissionsvorsitzenden zum inhaltlichen Vortrag, nicht hinterher im nichtöffentlichen Teil, die den Ton für die nächsten 90 Minuten ja gut festlegte. Mit der Ergänzung im Hinterkopf dürfen Sie gerne noch einmal mit mir leiden. Was ich 2011 übrigens auch unterschlagen habe, ist, dass das die erste von zwei Situationen in meinem Leben war, in der mir - ich trug eine Feinstrumpfhose - Schweiß aus den Kniekehlen rann, das war der Preis dafür, dass ich nach außen kontrolliert und souverän wirkte. Irgendwo muss es ja raus. (Das zweite Mal war ein zweistündiges Telefonat mit einer großen Kommission im Mutterhaus in New York, die mich dazu bewegen wollte, etwas zu tun, was ich nicht tun wollte. Da konnte man viel lernen: Ich habe regelmäßig den Satz wiederholt "This is not negotiable", woraufhin am anderen Ende Stille herrschte. Ich habe das schnell durchschaut, wenn man selber dann weiterredet, weil man die Stille nicht erträgt, dann verhandelt man ja eigentlich doch. Also habe ich auch geschwiegen. Die längste Pause war fast 90 Sekunden, das ist am Telefon sehr lang, da wird es auch schon mal anstrengend in den Kniekehlen. Die Kniekehlen sind meine berufliche Angstreaktion.)

So, wie kam ich drauf? Richtig. Der finale Verfall des SPIEGEL. Ich habe schon immer SPIEGEL gelesen, im Studium sogar so verrückt auf Papier. In einem Proseminar zum Thema Pressesprache (gähn) habe ich ein Referat über den SPIEGEL gehalten (gähn). Ich hatte jahrelang SPON als Startseite eingestellt. Irgendwann habe ich dann sogar das SPIEGEL+ Abo gekauft. Ja. Hab ich alles getan. Aber da ich ja in der Vergangenheit auch nie die BILD gelesen habe, da ich mich ja höchstens für Journalismus interessiere, nicht für Trash, ist diese jahrzehntelange Freundschaft hier jetzt leider zuende.

Ich hab mich schon länger permanent geärgert. Nicht nur über den SPIEGEL, da ich dort aber am meisten lese, war die Frequenz groß. Mitten im Lockdown die Clickbait Überschrift "Jeder 5. Deutsche hält die Corona Maßnahmen für übertrieben". Beruflich arbeite ich mit Statistik und kommuniziere Ergebnisse. Wenn in einer Umfrage 18% der Befragten sagen, die Maßnahmen gingen ihnen zu weit, 82% sagen, sie seien perfekt oder noch zu harmlos, ist die Botschaft ja nun wirklich nicht, dass jeder 5. unzufrieden ist, es sei denn, man möchte Bambule durch Bias fördern. Und das habe ich in der ganzen Pandemiezeit nicht zu schätzen gewusst. Ich bin sehr für ausgewogene Berichterstattung, für das Anhören aller Seiten, dass die Medien nicht Fox News-gleich Sprachrohr der Regierung sind. Aber das Phänomen, dass sich jede Geschichte noch besser verkauft, wenn Leute darin streiten, schreien oder bloßgestellt werden, hat in den letzten Monaten dazu geführt, dass ich meistens die Bundespressekonferenz gucke und mir den Rest einfach selber denke. Das ist aber auch kein guter Weg, ich bin ja nur inselbegabt. Ganz besonders schlimm ist übrigens die Mechanik, mit der der SPIEGEL neue SPIEGEL+ Abonnenten zu gewinnen versucht. Alle interessanten oder gesamtgesellschaftlich wichtigen Texte sind hinter der Aboschranke, das könnte man ja sogar noch nachvollziehen, aber dann sind die Artikel häufig mit Clickbait-Überschriften versehen, die schlichtweg falsche Informationen oder Fragestellungen vermitteln, die dann zwar hinter der Bezahlschranke wieder geradegerückt werden, das ist aber für die allermeisten Leser gar nicht zu erfahren.

Deshalb lese ich jetzt was anderes. Hera Lind. Gibt es die eigentlich noch?

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Freitag, 2. Oktober 2020
Hair
Heute war ich leider beim Friseur. Das kann man so stehen lassen, da ich finde, ich sehe aus wie Maybrit Illner. Immerhin ist der Selbstversuch, den Lockdown dazu zu nutzen, die Haare nicht mehr zu färben und zukünftig einzelne graue Strähnen, was bei Herren ja sexy ist, so wie Lily Munster zu tragen, abgebrochen. Ich hatte wirklich gute Gründe, nicht mehr zu färben. Meine Dachshaare, die etwa doppelt so dick sind wie Menschenhaar, werden im weißen Zustand noch dicker, also etwa so wie Bleistifte. Die nehmen dann die Farbe sehr anders auf als die dunkelbraunen Haare, und dann sieht man halt albern aus. Zur Not geht man dann halt an einen Ort, wo Färben die absolute Spezialkompetenz ist und auch so abgerechnet wird, und dann hat man, wenn man Pech hat, so wie ich, Haare, die unfassbar schnell wachsen, sodass man nach einer Woche schon wieder einen sichtbaren Ansatz hat. Das alles wollte ich umgehen, aber ich bin da leider noch nicht. Ich habe mich sechs Monate durchgebissen, doch die grauen Schläfen stehen Männern besser als mir. Das ist meine Meinung, und die ist ja die einzige, die hier zählt.

Ich könnte jetzt recherchieren, was und in welcher Tiefe ich in der Vergangenheit über Haare geschrieben habe. Ich hatte bis zum Zeitpunkt des Alterns ja sehr viel Glück, musste die Gegebenheiten aber auch annehmen, wie sie sind. Genetisch gesegnet mit 1/4 Afrohaar startete ich als Kind (wie Jonathan übrigens auch) nicht nur mit braunen statt blauen Augen, sondern auch mit sehr kleinen Locken, die dann mit den Jahren weniger wurden, dann wieder mehr, dann wieder weniger, dann wieder mehr, dann wieder weniger. Jonathans sind seit fünf Jahren weg, scheinbar für immer. Aber der ist ja auch schon wieder die nächste Generation. Egal ob mit vielen oder mit etwas weniger Locken konnte ich den Großteil meiner jüngeren Jahre bei Friseur gratis schneiden lassen, da ich oft gefragt wurde, ob ich als Haarmodell herhalten wolle. Fast das ganze Studium habe ich so durchgestanden.

Ein wichtiger Parameter, den ich annehmen musste, ist, dass meine Haare sich nicht frisieren lassen. Umso wichtiger eine Friseurin, die weiß, was ein guter Schnitt ist. Einmal geschnitten, spult mein Kopf dann das gewohnte Programm ab und tut, was er will. Ein Friseur, der meine Haare verstanden hat, ist somit lebensnotwendig. Zeitlebens - und da bin ich mir jetzt sicher, dass ich das schon mitgeteilt habe - war meine Traumfrisur der glatte, seidige, glänzende, kinnlange Bob. Also genau die eine Frisur, die mit meinen lockigen Dachshaaren nicht geht. 2005 ging ich mal in Amsterdam zum "Kinky Kapper", die mir genau das schnitten, mit einem Pony (no go!). Dann kaufte ich mir ein Glätteisen, stand jeden Morgen im Bad in Schwaden von verbranntem Horn und glättete meine Haare. Dann viel Haarspray drauf, und schon hatte ich die gewünschte Frisur. Als ich zur Silvesterparty bei meiner Sandkastenfreundin klingelte, öffnete sie die Tür und sagte: "Oh, die Playmobil Feuerwehrfrau ist da." Haare müssen sich bewegen können.

Grundsätzlich habe ich meinen Haaren das nie verübelt, ihren Unwillen, zu tun, was ich möchte. Sie waren ja gut. Und das sich-nicht-einer-Struktur-unterordnen-Wollen ist ja etwas, was ich nicht nur in meinen Haaren mit mir rumtrage. Also habe ich immer geguckt, dass ich einen Friseur habe, der so schneiden kann, dass meine Haare machen, was sie wollen, und ich dennoch vorteilhaft damit aussehe. Na gut. Ganz jung hatte ich noch Handballerinnenhaare. Zum Beispiel hier, mit 23, auf meinem Führerscheinfoto.



Das kann man jetzt beurteilen, wie man mag, aber ich sage ganz selbstbewusst: Ich konnte es tragen. Anders als mit 34, als ich postnatal einen großen Teil meiner Matte eingebüßt hatte, einen nachwachsenden Motown-Heiligenschein trug über den 40 cm langen Resthaaren und beschloss, gegen den Willen des Friseurs noch mal die Frisur von 1999 schneiden zu lassen. Das gab das Gesicht leider nicht mehr her und endete in dem Spruch der Gemüsefrau, an den Sie sich sicherlich erinnern: "Hast du Mann, hast du Kind, brauchst du keine Frisur mehr."

Ich ließ wieder wachsen, pendelte mich auf halber Strecke zwischen Kinn und Schulter ein, und habe dort viel Elend über mich ergehen lassen. Hair Stylistin Doreen Krause aus Brandenburg, die zu meiner Hochzeit den "Audrey Hepburn Beehive" so interpretierte, wie ich das tue, wenn ich mir das Gesicht abends wasche, etwa 50 Düsseldorfer Friseure, die trotz meiner Bitte, die Haare nicht glatt zu fönen, DA ICH LOCKEN HABE und meine Haare nicht morgens 60 Minuten glattföne, die Frisur so schneiden, dass man sie toll glattfönen kann, wenn man bereit ist, 60 Minuten mit irgendwelchen Rundbürsten irgendeinen Spökes zu machen, und dann kam Maki.

Maki hat selber gute Haare (erstaunlich, wie viele Friseurinnen schlechte Frisuren haben), arbeitet bei einem Friseur, zu dem man bestens gelaunt gehen kann, und ist ihr Geld wert. Heute aber hatten wir vermutlich einfach das Problem, dass Maki mich mit irgendjemandem verwechselt hat, der vollkommen andere Haare hat als ich.

Los ging es damit, dass man ZU ZWEIT 50 Minuten lang Farbe aufpinselte. Zu zweit. Also 100 Minuten wurde Farbe aufgepinselt. Dann waschen, Spülung 1, Spülung 2, Haarmaske, ich schlief im Waschbecken ein, dann wurde ich wieder wach und hatte das, was ich nur beim Friseur haben kann: Weiche, geschmeidige Mädchenhaare. Wo sonst Dachs ist, waren plötzlich silikonbeschwerte Mädchenhaare. Die wurden dann noch ausführlich gekämmt - ich besitze zuhause keinen Kamm, ich kämme meine Haare grundsätzlich nicht - und schon hatte ich weiche, glatte Haare. Nun kenne ich das natürlich und falle da nicht mehr drauf rein. Vielleicht fünfmal habe ich mir in meinem Leben meine Traumfrisur schneiden lassen, und wenn man 10 Kuren macht, dann ganz lange kämmt und dann stundenlang über einer Rundbürste fönt, sieht das super aus, wenn ich aber aus dem Laden gehe, habe ich am nächsten Schaufenster schon wieder die erste Locke hinterm Ohr, und spätestens zuhause sehe ich aus wie Calimero aus dem Ei.

Maki begann also zu schneiden, schnipp schnapp, und nur zur Sicherheit sagte ich: "Sie erinnern sich daran, dass ich den Scheitel links trage?" - "Aber natürlich." Sie schnitt allerdings für Scheitel rechts. Irgendwann wurde ich sehr unruhig und wollte bereits Gelerntes wieder ans Tageslicht befördern und sagte: "Sie wissen ja, dass die Haare sich trocken noch zwei Zentimeter hochziehen durch die Locken?" - "Aber selbstverständlich." Ich war verwirrt, hatte aber auch schon aufgegeben, da ja bereits nass kinnlang geschnitten worden war, was bedeutet, dass ich morgen früh, wenn die Haare wieder normal sind, eben aussehen wie Calimero aus dem Ei. Aber da konnte man ja nix mehr machen. Ich begann zu grübeln, was passiert sein könnte, dass Maki plötzlich meine Haare nicht mehr schneiden kann. Bis sie auf einmal sagte: "Und wenn Sie dann mal einen besonderen Anlass haben, kommen Sie einfach rein, dann können wir ganz toll ein paar Wellen oder Locken reinmachen."

Wellen oder Locken reinmachen ist in den letzten 44 Jahren nicht das Thema gewesen. RAUSmachen. Okay. REINmachen nicht. Sie hat mich einfach verwechselt. Mit einer Frau, die weiche, seidige Mädchenhaare hat, ganz glatt, mit Scheitel rechts. Und deren Frisur trage ich jetzt. Schade. Als ihr auffiel, dass irgendwas nicht stimmt, zückte Sie die Effilierschere und schnitt einfach noch mal die Hälfte des Volumens raus, was also dazu führt, dass ich demnächst wieder den Motown Heiligenschein tragen werde. Es ist nicht leicht.

(Hier noch ein Beweisfoto: Das sind nicht die Haare von jemandem, der reinkommen muss, um Wellen legen zu lassen.)



Die nächsten vier Wochen sehe ich jetzt kacke aus, dann habe ich aber schon wieder so einen doofen Ansatz, dass ich es sehr bereuen werde, doch wieder gefärbt zu haben, und jetzt können Sie alle sagen: "Oh, jede Frau wäre froh, die Haare zu haben", das höre ich seit 40 Jahren, als Kind habe ich aber geantwortet: "Ich kann keinen Zopf machen, weil die Haare zu schwer sind", dann habe ich viele Jahre gesagt: "Aber ich will einen Bob, und damit sehe ich aus wie die Playmobil Feuerwehrfrau" und jetzt habe ich einfach resigniert. Es ist nämlich so. Man ist ja nie zufrieden damit, was man hat.

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Freitag, 25. September 2020
Walking in my shirt (erfunden)
Wir haben an dieser Stelle noch nicht ausführlicher über Masken gesprochen. Nach gut und gerne 6 Monaten Pandemie vermute ich, jetzt oder nie müssen wir das Thema angehen. Man soll den Gaul reiten, solange er nicht tot ist. Oder so ähnlich.

Ich besitze ja eine Nähmaschine und noch etwa 100 Meter lustige bunte Baumwollstoffe, aus denen mal irgendwelches Kinderutensil genäht werden sollte, bevor ich entschied, mich lieber auf andere Inhalte zu konzentrieren und das Kind entschied, sich zur Einschulung nur eine Sache zu wünschen: "Mama, ich möchte bitte nur noch Dinge aus dem Kaufhaus haben." (Umso dramatischer, dass das Kaufhaus jetzt leergekauft ist. Es gab noch circa 1000 Eminent Rollkoffer und 500 Bench T-Shirts. Rest weg.) Somit war der Beginn der Pandemie, als die Politiker und Starvirologen sich noch nicht trauten zu sagen, dass Masken eventuell vorteilhaft sein könnten, weil es ja gar keine gab, für mich der große Moment: Alle waren nett zu mir, schenkten mir Gummibänder (waren ja weltweit ausverkauft), Pfeifenreiniger und Co und tauschten diese gegen von mir genähte Masken. Männer taten sich teils etwas schwerer, doch ich hatte auch einen braunen Stoff mit Dachsen im Angebot, der sehr maskulin wirkte, maskuliner als meine eigene Lieblingsmaske, rosa mit großen 70er Jahre Viren drauf. Also nähte ich für die gesamte erweiterte Familie, das gesamte Büro, die halbe Nachbarschaft und die ein oder andere befreundete Person, bis ich irgendwann nach wirklich vielen Masken und wirklich viel Schrägband-Selberbügeln keine Masken mehr nähen wollte. Dann gab es ja auch wieder welche zu kaufen.



Meine Masken waren leider nicht das Gelbe vom Ei. Meine Mutter konnte mit ihrer kaputten Schulter nicht hinten binden, ich konnte nicht gut damit atmen, dem Kind waren sie nicht erwachsen genug, alle hatten was zu motzen. Eines Tages war ich im Supermarkt, kaufte aus Recherchegründen ein Paket Einmalmasken und war sofort begeistert. Nicht nur, dass ich die nicht selbermachen musste, sie waren atmungsfreundlich, hatten Gummibänder, das begehrteste Luxusgut der westlichen Welt, insgesamt ein gutes Produkt. Mit der kleinen Ausnahme, dass ich ja Wegwerfprodukte grundsätzlich sehr schlecht finde. Dennoch trug ich fortan blaue OP Maske.

Die Wiederöffnung der Schule brachte eine neue Komponente in das Störgefühl rundum die Wegwerfmaske: Jonathan braucht aus irgendwelchen Gründen drei am Tag, die danach verloren, kaputt oder ganz dreckig sind, also wurde die Schlagzahl beim Maskenkauf hochgesetzt, das Gewissen wurde dadurch nicht besser. Gestern: Game Changer.

Mein Mann hatte für sich eingekauft und kam mit einem Paket Baumwollmasken in sehr ansprechenden dezenten Mustern aus dem Drogeriemarkt. Hersteller der Masken: Nein, ich sag's jetzt nicht, aber ein Hemdenhersteller der gehobenen Klasse. Da eine durchschnittliche Bluse dort 170 Euro kostet, lag die Vermutung nahe, er habe im Lotto gewonnen, aber nein, 5 Masken kosteten 10 Euro. Sie saßen gut, rochen auch ungewaschen nicht nach Chemie, und nach der Wäsche fühlten sie sich noch immer gleich gut an.

Wenn ich mit jemandem über textile Entwicklungen sprechen möchte, mache ich das natürlich mit Düsseldorfs berühmtesten Künstler und Radfahrer. Also lief ich heute mittag in den Laden, er begrüßte mich liebevoll mit "Ach, hast du jetzt auch so eine Maske?", und dann folgte ein 30minütiger Monolog (der allerdings sehr interessant war) über ägyptische, amerikanische und usbekische Baumwolle, die Fadenqualität an den Innenseiten der Manschetten, die neue Entwicklung des krawattenfreien Auftritts auch im Dax-Umfeld und dessen Auswirkungen auf die Oberhemdschneider der Oberklasse, und so weiter, und so fort. Was genau die einzelnen Informationseinheiten waren, hab ich mir nicht detailliert gemerkt, es war aber alles hochinteressant. 70 Millionen Masken hat der Hersteller inzwischen in Deutschland verkauft, das sind 140 Millionen Euro. Da ist sicherlich ordentlich Marge drin, andererseits beantwortet das noch immer nicht die Frage, wie es sein kann, dass eine Bluse 170 Euro kostet, eine Maske 2. Das Geschäftsmodell ist mir noch nicht klar. Zudem bin ich ja immer nicht davon überzeugt, dass es Premiummarken gut tut, von jetzt auf gleich mit irgendwas im unteren Preissegment den Markt zu überfluten. Das nimmt den Menschen doch den Spaß, die 170 Euro für eine Bluse ausgeben, damit andere Menschen, die auch 170 Euro für eine Bluse ausgeben, das Krönchen an der Manschette sehen und wissen: Ah, sie hat 170 Euro für eine Bluse ausgegeben. Am Ende heißt es dann nämlich: Oh, die Hemden mit den Krönchen, das ist doch die Firma mit den Discountermasken. Aber was red ich. Soll doch jeder machen, wie er mag. Ich habe jedenfalls jetzt eine optisch und funktional ansprechende Maske, habe mir noch ein paar dazubestellt, und bin jetzt für den Rest der Pandemie passend zur Damenoberbekleidung ausgestattet.

Nachtrag: Eine interessante Informationseinheit, die mir gerade wieder einfällt, ist dieser Dialog:

Künstler: "In Italien mussten die Ärmel von Hemden immer unterschiedlich lang sein. Rechts Manschette mit Emblem ein bisschen länger, damit die unterm Anzug rausguckt und man zeigen kann, was für ein tolles Hemd man trägt, links zwei Zentimeter kürzer, damit man die Uhr gut sehen kann."

Herzbruch: "Ein italienischer Mann zu sein erscheint mir sehr anstrengend."

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