Freitag, 16. Mai 2014
Abwägen
nun habe ich ja vor 2 wochen begonnen, in einer firma dinge zu leiten, von denen ich strukturell sehr viel, inhaltlich aber sehr wenig ahnung hatte, und übermorgen fliege ich ins ferne ausland, um dort dinge zu verhandeln, die ich zu diesem zeitpunkt besser verstanden haben sollte. mittagspause war daher heute nicht vorgesehen. gut, ist sie ja nie, aber heute war ich eben richtig hungrig, als ich das büro verließ. der plan war: nach hause heizen, 10 minuten auf die couch, dann das kind abholen, dann supermarkt, und dann endlich nach 24 stunden was essen. das war der plan.

spulen wir 3 wochen zurück. oder kurz sogar 3 jahre. mein mann, der sozialpädagogensohn, hat ja angst vor "medien", und daher reiben wir uns relativ regelmäßig inhaltlich am thema "fernsehen", "computer" und all diesen dingen. und nein, mein mann liest hier noch immer nicht mit, weil, und das wissen wir ja zb von angela merkel, "das internet ist ja neuland für uns". seit immer streiten wir also darüber, ob das kind fernsehen darf und wenn ja, wieviel. ich bin klar für ja und klar gegen interesse wecken durch starke reglementierung, zumal ona mit sport, musik und garten ja eh gar keine zeit hat, zu lange zu gucken. und ganz ehrlich: nach 7 stunden kita, 1 stunde musikschule und 2 stunden im gemüsebeet buddeln halte ich das sandmännchen nicht für die große bedrohung seiner intellektuellen und motorischen fähigkeiten.

wir stritten also. immer. dann kam er vor ein paar wochen nach hause mit der ankündigung, im kindergarten sei eine informationsveranstaltung mit dem titel "wie viel medienkonsum schadet meinem kind" oder ähnlich, da sollten wir hin. da ich ja fernsehtourette habe (ich vertrete reflexartig sehr drastische pro-fernsehstandpunkte, wenn sich eltern über die fehlende fernseherfahrung ihrer kinder zu definieren versuchen), ging ich davon aus, dass das keine für mich sinnvolle veranstaltung wäre, der mann wollte aber auf jeden fall dorthin, vermutlich, um sich von einer sozialarbeiterin romantisiertes argumentationsmaterial gegen seine frau zu besorgen.

doch zurück zu heute. ich kam also nach hause, legte mich 10 minuten auf die couch, sprang dann mit der ec-karte in der arschtasche ins auto und fuhr in den kindergarten, um das kind zu holen. dieses saß noch am tisch und bastelte irgendwas mit bügelperlen, und 5 minuten vor toresschluss begann ich zu drängeln, durchaus verwundert darüber, dass die erzieherinnen ihm noch gar nicht die tasche hinterhertrugen. dann die verwunderte frage von frau t.: "bleiben sie denn etwa gar nicht hier?" ich überlegte kurz, sammelte mich und antwortete: "nein, wir wohnen nämlich ja woanders."

sie ahnen es natürlich schon. heute war also die tolle medienveranstaltung, und es wurde extra noch mal kontrolliert: wir waren ja angemeldet. ich verlangte nach einem telefon.

meinen mann, dessen wunschveranstaltung dies ja war, erwischte ich in essen an seinem schreibtisch. oh, das hätte er wohl vergessen, und ja, dann müsste ich da wohl jetzt hingehen, und nein, er würde natürlich nicht vergessen, ein großes wiedergutmachungsgeschenk mitzubringen. ich nahm also teil.

und jetzt müssen sie noch kleine details über unseren kindergarten wissen. es ist eine sogenannte brennpunkteinrichtung, die der sprachlichen und sozialen integration dient. ich habe da bisher nicht drüber geschrieben und werde das auch in zukunft nicht tun, aber ich sags mal so: eines der probleme, die eine der 10 teilnehmenden mütter (von 80) hatte, war, dass ihr mann sich weigert, den porno auszumachen, wenn der dreijährige im raum ist. auf allen, wirklich allen ebenen ist es zum glück so, und da zitiere ich meine liebe freundin caro wieder: das bildet mich nicht ab.

5 minuten in die 90 minütige veranstaltung hinein entschloss ich, dass ich heute keinen wortbeitrag liefern wollte. also saß ich auf einem winzigen kinderstuhl, hörte zu, dachte 30 mal "so eine scheiße" und 40 mal "ich sag gleich was, gleich sag ich was", dann sagte ich aber natürlich nichts, ärgerte mich über die unreflektierte borniertheit der sozialarbeiterin, freute mich über mein geordnetes familienleben wo kein kind pornos guckt und ließ den blick durch die kita schweifen, immer weg von der sozialarbeiterin, die regelmäßig motivierend in meine richtung guckte.

dann waren 90 sehr lange minuten um, und alle bedankten sich. im letzten satz dann folgende bemerkung: "ich danke ihnen für die interessierten beiträge. mir ist nur aufgefallen, dass eine mutter gar nix gesagt hat." alle augen auf mich. dann motivierendes gucken der sozialarbeiterin.

sagen wir es mal so. ich bin sehr wortgewandt. und ich bin sehr reaktionsschnell. folgerichtig erwiderte ich spontan beherzt: "eigentlich wollte mein mann ja kommen." betretenes schweigen. ich legte also nach: "jetzt... so... weil mich das wirklich gar nicht interessiert hat." das schweigen wurde unangenehm lang, fast laut. ich legte also wieder nach: "außerdem habe ich da eine sehr dezidierte meinung, die ich in diesem rahmen aber nicht diskutieren werde. es ist nämlich so, dass ich keine pauschalen ratschläge schätze. ich hatte zb meinen ersten eigenen fernseher im kinderzimmer mit 8, und mit 33 habe ich die erste universitätsprofessur vertreten." schweigen so laut, dass ich gerne weggehen wollte.

letztendlich endete es so, dass ich mit der sozialarbeiterin noch 30 minuten vor der tür stand und redete. gut sogar. und ich habe viele dinge gelernt. nicht über das medienverhalten von kindern, denn ja, ich habe da meine meinung, die ich auch nicht ändern werde, und die seit heute sogar sozialarbeiterisch abgesegnet ist: von den eltern gelenktes fernsehen schadet überhaupt gar nicht. was schadet ist das fehlen der dinge, die das fernsehen ersetzt. und ich lehne mich weit aus dem fenster und behaupte, dass fernseh bei ona nix ersetzt. er ist täglich stundenlang draußen, macht sport, musikschule und spielt 5 mal in der woche mit seinen eltern ein gesellschaftsspiel, malt, schreibt, liest und hört. es ist alles da. und das fernseh.

aber die sache, die ich heute gelernt habe, ist die: so unreflektiert und pauschalisierend sozialarbeiter manchmal wirken, so denken sie nicht zwingend. es ist nur so: eltern, die nicht von sich aus wissen, dass dreijährige keine pornos gucken sollten, denen kann man eben auch nicht sagen, dass man beim medienkonsum sinnvoll abwägen sollte. sinnvoll abwägen kann nicht jeder, und dann sind klare handlungsanweisungen eben die lösung. höchstens 30 minuten, nur kika, keine pornos. das gilt nicht für mich, gut, das mit den pornos doch, aber das muss man mir ja nicht erklären. frau n. verglich das mit kindern im straßenverkehr. man kann dem ona nicht erklären, dass man natürlich auch bei rot über die straße gehen kann, wenn man gut abwägt, ob es wahrscheinlich ist, dass in den nächsten minuten kein auto kommt, zb nachts um 3 in nottuln. das überfordert das kind. er weiß: nicht bei rot über die straße, punkt. ich weiß: ich kann abwägen. und darüber bin ich sehr froh.

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Das ist so schön. Ich kann das übrigens bestätigen. Ich durfte ja als Kind alles, auch stundenlang fernsehen. Was bewirkt hat, dass ich auch eben immer nur das geguckt habe, was ich wollte. Das konnte auch schon mal mehr sein und auch mal Unfug, aber der Fernseher war für mich eben kein Suchtobjekt, was immer genutzt werden musste, wenn sich die Gelegenheit bot.

Außerdem, na ja, 10 Jahre Klavierunterricht, zwei Jahre Akkordeon und Klarinette, ein bisschen Chor, Abi mit 1,7 und so weiter. Scheint mir also nicht geschadet zu haben.

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dito. erster eigener gemeinsam mit schwesterherz mit 7 (sie) und 9 (ich) jahren. keine zeitlimits, nur nicht beim frühstück an schultagen, weil die eltern da zeitung lesen wollten ohne geräuschkulisse. zweimal ordentliches abitur, zweimal hochschulabschluss, zweimal unistellen, keine süchte, keine spätfolgen.

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Das Fernsehprogramm war aber nicht so brutal idiotisch und porn-verblödet und trashy bis vor ein paar Jahren ...

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das ist alles richtig, und ich sagte ja: von den eltern gelenkt. ich lasse ona heute auch nicht aussuchen, was er guckt, aber das war durch 3 programme in den 70ern ja auch sowieso nicht sehr interessant.

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Das mit dem Fernseher kann ich unterschreiben: Ich hatte meinen ersten eigenen mit 9. Es ist nicht so, dass ich meine Eltern dafür im Nachhinein mit einem Pestalozzi-Preis bedenken würde, und im Falle eigenen Nachwuchses ist das auch kein Modell für mich. Alleine nachts mit 10 "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" zu gucken - keine gute Idee. Die Jahrzehnte währende Angst vor David Bowie war da noch eine der harmloseren. Aber: Freunde, Beziehung, Abi, Studium mit Auszeichnung, super Job.

Mich macht die Porno-Geschichte aber traurig. Richtig, richtig traurig.

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die geschichte ist traurig. und leider nur eine derer, die traurig macht. und wütend auf "das system", welches erlaubt, dass einrichtungen mit solch homogenen strukturen entstehen.

wie gesagt, ich halte mich zu dem thema hier zurück, aber wirklich, ich hätte besser bundesbildungsministerIn werden sollen.

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Bunkt! <3

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....
Abgesehen vom Pornokonsum denke ich doch manchmal, dass es für manche Kinder vielleicht sogar besser ist, vor dem Fernseher aufzuwachsen.
Weil sie dann eventuell nicht hören, wie die Eltern streiten.
Und weil in fast jeder Kinderkanalsendung Themen wie Moral, Freundschaft, Loyalität etc. (manchmal schon mit dem Holzhammer) thematisiert werden; vielleicht ist das in manchen Ecken sogar die "bessere Erziehung".
Aber man steckt halt nie drin.

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ich verstehe sie gut.

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Nottuln, das ich das hier lesen darf

Da kommen bei mir direkt so was wie heimatnahe Gefühle auf.

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ich hab in münster studiert. da kannte man das als "noch 2 abfahrten, dann sind wir da" ;-)

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Ja genau, ich hab dort 30 Jahre gelebt, also in MÜnster, in Nottuln möchte man das ja eher weniger :-)

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achnaja, könnte auch freckenhorst sein.

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In Freckenhorst war ich schon mal.

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was schadet ist das fehlen der dinge, die das fernsehen ersetzt -- prächtigst auf den Punkt gebracht.

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