Donnerstag, 9. September 2021
Chancellor Mörkel
So, nach einer Nacht darüber schlafen habe ich beschlossen, dass Sie entweder einfach selber das gestrige Gespräch von Angela Merkel und Chimamanda Ngozi Adichie im Gespräch mit Miriam Meckel & Léa Steinacker hören müssen, oder halt nicht. Ich möchte den Mantel des Schweigens darüber ausbreiten, *wie* wenig gelungen ich das Konzept und die Gesprächsführung von Meckel und Steinacker insgesamt fand. Was die beiden Gäste ganz offensichtlich am liebsten gemacht hätten, wäre gewesen, sich einfach miteinander zu unterhalten. So hatten die Gastgeberinnen vollkommen langweilige und in jedem Fall total überintellektualisierte Fragen vorbereitet, die zum Beispiel Frau Adichie ab dem zweiten Versuch schon gar nicht mehr beantworten wollte. Das fehlt in dem Audiomitschnitt übrigens sehr, ich habe gerade kurz reingehört: die Stimmungslage, dass man bei jeder Frage gespannt die Luft anhält, weil nicht klar ist, ob Adichie Miriam Meckel gleich zum Frühstück isst, wird in dem Audiodokument leider nicht so gut transportiert wie im Saal. Ich hätte an Meckels Stelle nicht sein wollen.

Und jetzt verrate ich Ihnen etwas, was mich wieder eine Horde Leser*innen kosten wird, ich mache es aber dennoch. Ich fand Merkel toll. Ich fand alles an ihr toll, und ich bin sehr froh, sie noch einmal in ihrem Amt live gesehen zu haben. Wie sie in den Raum geführt wird und sofort eine umfängliche Präsenz hat, ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass sie natürlich das halbe Schauspielhaus mit Personenschutz füllen kann. Sie ist (für mich) eine Person mit unfassbar viel Ausstrahlung. Jede ihrer Antworten fand ich klug, ich konnte - glaube ich - recht gut sehen, dass sie die Gesprächsführung ebenso wie Frau Adichie nicht sehr zu schätzen wusste, also führte sie in Teilen das Gespräch einfach selbst, dazu hätte ich sie noch viel mehr ermutigen wollen. Sie war schlagfertig, wie man sie kennt, trocken und offensichtlich äußerst interessiert an ihrer Gesprächspartnerin, sagte kluge und witzige Sachen und verströmte insgesamt diese Kombination von Klugheit und Unaufgeregtheit, die ich an ihr so sehr schätze und die ich in weiter Zukunft für mich als Aura schon mal vorbereite (muss aber an Klugheit sowie an Unaufgeregtheit noch sehr zulegen).
Aber ich habe ein persönliches Problem mit Frau Merkel.

Ich bin sehr sehr froh, 16 Jahre eine Frau als Kanzlerin gehabt zu haben, die es nicht nur mit Beharrlichkeit (oder Aussitzen) bis an die deutsche Spitze geschafft hat, sondern die dann in dieser Funktion geschafft hat, in der Welt viele Fäden zusammen zu halten. Hätten Sie sich Martin Schulz, dessen schärfstes argumentatives Schwert war "Ich hab Herrn XY angerufen, der fand das auch schlecht" auf einem Sofa zwischen Erdogan, Putin und Trump vorstellen können? Ich nicht. Ich habe das an ihr immer sehr bewundert, sich nie aus der Reserve locken lassen, nie ein unbedachtes Wort, nie in die Karten gucken lassen, und mit einer gewissen Kühle die eigenen Ziele stur verfolgen. Sie hat ein Rollenmodell geliefert, das über alle Klischees über Frauen in Führungspositionen erhaben war. Und das mit einer fehlenden Selbstverliebtheit, die ihresgleichen sucht. Jedes Jahr die gleiche Klamotte in Bayreuth, egal, was die Bild wieder schreibt, das Kleid ist noch gut, ich habe andere Aufgaben. Immer regungslos da sitzen, wenn man über den grünen Klee gelobt wird, ist ja egal, ich hab hier einen Job, bitte weiter im Text. Nie kopflos reagieren, wenn Seehofer mich 15 Minuten wie ein Schulkind neben sich stehen lassen möchte, während er eine Rede hält, bleib ich halt da stehen und mach die Raute, wenn's schön für ihn ist, bitte. Ich fand all die Jahre all das an ihr toll, uneingeschränkte Souveränität, vollkommene Ruhe. Ein Bild von weiblicher Führung, das Vorurteile bricht. Aber es gibt ein Problem.

Gleichzeitig ist es nämlich so: Das Kabinett Merkel ist - bitte verzeihen Sie den Ausdruck - ein einziger Scheißhaufen. Und das habe ich ihr sehr übel genommen. Ich habe natürlich weder Ahnung von noch Erfahrung mit Diplomatie, und ich kann mir noch nicht mal im Ansatz vorstellen, wie geschmeidig und flexibel sich eine Bundeskanzlerin aufstellen muss, um ein Bündnis mit Seehofers CSU und der SPD gelingen zu lassen, doch die kluge Person, die sie ist, hätte doch innerlich ein bisschen sterben müssen, als irgendjemand gesagt hat: "Komm, BMBF, das kriegt Karliczek." Ich kann mich noch nicht einmal dahinbewegen, zu denken, dass das ihre eigene Idee gewesen sein könnte. Scheuer. Bär. Der kometenhafte Aufstieg von Kramp-Karrenbauer. Das alles hätte doch niemals passieren dürfen. Die gesamte CDU in der Form, in der wir sie kennen, Maskendeals and all, hätte niemals passieren dürfen. Und wie gesagt. Ich weiß gar nichts über Diplomatie. Aber spätestens nach der vierten gewonnenen Wahl hätte ich mir gedacht, dass man den Chefinnenbonus ausspielen kann und die geballte Inkompetenz einfach wegfegt. Ihr Job als Kanzlerin war es, das Land bestmöglich zu führen, und wenn das nicht möglich ist mit einer Rollenbesetzung, die die Größenverhältnisse von Bundesländern gut abbildet, dann wäre mein naiver Wunsch, dass eine Kanzlerin zu dem Ergebnis kommt, dass das dann jetzt wohl anders laufen muss, geht ja hier um was. Und jetzt können Sie natürlich sagen: "Ja, aber sie hat ja auch alle Kompetenz in ihrem Umfeld erst gar nicht stattfinden lassen." Und dann haben Sie vielleicht Recht. Und da muss man dann schlussendlich sagen: Katastrophe.

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Auch, wenn ich in Sachen Politik und erst recht Diplomatie wirklich n ich sattelfest bin, stimme ich Ihnen in beiden Sachen komplett zu!
Ich habe unsere Kanzlerin (leider) nur einmal live erlebt, bin aber der gleichen Meinung. Ebenso (gerade in Zeiten von Trump und all den anderen ?aufgeregten? Menschen) empfand ich diese Unaufgeregtheit immer alle deutlich zielführender. Denn, Sie (also die Kanzlerin) hat einen Job zu machen!
Was ihr Umfeld angeht: STIMMT! Sicher gibt es in Berlin (und allen anderen Ecken, in denen Politik gemacht wird) äußerst fähige und ebenso motivierte Menschen, die objektiv gute Arbeit machen. Aber leider habe ich das starke Gefühl, dass diese ?Fähigkeiten? mit zunehmender Höhe des Postens nicht unbedingt positiv korrelieren?

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Halte Frau Merkel ihre Haltung 2015 zugute. Davon ab war und ist sie natürlich fester Bestandteil des CDU-Apparates mit aller Strippenzieherei, Stuhlbeine-Ansägerei, Postenhandel etc. Ohne Lavieren hätte sie sich nicht so lange an der Macht gehalten. Finde bemerkenswert, dass sie es schaffte, in der Öffentlichkeit als relativ unabhängig rüberzukommen. Der sehr unschöne verborgene Teil von Politik läuft vermutlich in allen Parteien ähnlich ab.

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?Sie hat ein Rollenmodell geliefert, das über alle Klischees über Frauen in Führungspositionen erhaben war. Und das mit einer fehlenden Selbstverliebtheit, die ihresgleichen sucht.?
?Das Kabinett Merkel ist - bitte verzeihen Sie den Ausdruck - ein einziger Scheißhaufen.?
Zweimal Ja.
Ich glaube, das hängt zusammen, ich weiß nur noch nicht, wie. Als Frau in diesem Job, vor allem als Frau, die vor 16 Jahren niemand richtig ernst nahm bzw einschätzen konnte (ich habe mich damals in Politik versucht, weil ich wollte, daß sie als Kanzlerin möglich ist), hatte sie kein Hinterland und nur wenige verläßliche Vertraute, die nicht gleich ihren Job wollten. Ihr fehlten die ergebenen Kampfgefährten, die man auf dem Weg mitnimmt. (Gibt keine adäquate weibliche Form, das sagt viel.)
Irgendwie hatte sie immer ein Personalproblem, zu viele nette Luschen um sich herum, schnelle Ausfälle, wenig kompetente Leute, das ist komisch, weil so ein Ruf doch einige gute Leute interessieren sollte. Ich spekuliere: die wurden nicht gefragt, weil gefährlich oder die winkten ab, weil sie dann aus ihrem Netzwerk hätten aussteigen müssen, wo ihre Verpflichtungen und Loyalitätsgefühle sie banden.
Wenn du die Jungsclubs kalt stellst, stellst du auch ihre Kompetenz und ihre Kontakte kalt, die du nicht hast bzw nicht so schnell abrufen/aufbauen kannst. Ihr fehlte der Hofstaat, der den König macht.
Wie die Faszination der Figur Hamlet, dieses ewige Zögern, den Grund hatte, daß die Figur wahrscheinlich für einen asthmatischen Schauspieler geschrieben wurde, könnte es sein, daß vieles aus Merkels außergewöhnlichem Handeln bzw. Nichthandeln aus dieser Einsamkeit resultierte.
Ihre schnellen, emotionalen Entscheidungen, der Atomausstieg und die Aufnahme der Flüchtlinge, die die Autobahn entlang liefen, hatten kein Hinterland. Weder im Denken, noch in der Ausführung.
Die Frau hat den Tanker Deutschland 16 Jahre allein gefahren, mit ein paar wechselnden Kasperköppen an Bord.
Oder aber ganz einfach: HR war nicht so ihr Ding.

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(Muss da widersprechen: Niemand kann ein großes Schiff über 16 Jahre alleine segeln. Auch nicht Frau Merkel. ;-) Dass sie diesen Eindruck vermittelte, ist Teil des Problems.)

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Ja, aber.
Nun, meine Leserschaft geht Ihnen sicher so leicht nicht verloren, zumal ich Ihnen im Großen und Ganzen zustimmen würde.

Ich habe aber den Eindruck, dass auch bei Ihrer Darstellung ein Aspekt ein wenig unter den Tisch fällt: Frau Merkel ist immer noch eine CDU-Politikerin und dass manche Leute ihr unterstellen, sie würde heimlich die Grünen wählen, zeigt einfach eine unfassbare politische Naivität der Unterstellenden.

Ja, Frau Merkel hat geradezu unfassbare Inkompetenz um sich herum akzeptiert und teilweise konnte sie da wohl nicht anders (CSU-Minister). Das kann man ihr nur teilweise anlasten.

Aber daneben gibt es eine ganze Menge Schweinereien, die sie sicher nicht nur geduldet oder übersehen hat. Der ganze Irrsinn um den Atomausstieg, den man erst zurücknahm und dann doch durchführt, wobei man Konzernen Milliardenentschädigungen zuschusterte, die weitgehende Sabotage der Energiewende durch Altmaier: Das passiert nicht aus Versehen, das muss man wollen. Das ist Merkel-Politik und zwar - gerade weil sie Naturwissenschaftlerin und klug ist - wider besseres Wissen. Selbst die Umsetzung des sicher ehrenwerten "Wir schaffen das" sah gerade von Seiten des Bundes nun wirklich nicht so aus, wie es hätte aussehen können, wenn man wirklich gewollt hätte. Ihre gruselige Haltung in der Frage der "Ehe für alle"... ach, muss ich hier ja niemandem erzählen.

Dazu diese ganze tiefsitzende Korruptheit der Partei. Es kann mir keiner erzählen, dass Merkel von den Aserbaidschan-Connections, den Maskendeals und was weiß ich noch erst aus Rezos Videos erfahren hat. Die Frau kennt ihren Laden und sie ist da nicht zufällig. Ich mag ja gerne glauben, dass sie sich nicht persönlich bereichert hat und ihre unprätentiöse Art ist - gerade im Vergleich mit Möchtegern-Alphamännchen wie Schröder, Söder oder Laschet - liebenswert. Aber sie ist die Chefin dieses Sauladens, den sie über lange Jahre auch geprägt hat.

Ich glaube, man hat Merkel lange unterschätzt. Und ja, sie wird an einigen Stellen auch fehlen. Aber gerade setzt eine Überschätzung und Verklärung ein, die mir dann doch gar zu viel ausblendet.

Für mich bleibt ein überaus widersprüchliches Bild.

Michael

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Ich hatte nicht die Absicht, kein Aber zu transportieren.

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Ich denke, es fehlen insgesamt - quer durch die Parteienlandschaft - Köpfe, wie sie früher prägend waren. Ich habe neulich kurz Herrn Baum im TV gesehen - wahrlich kein Parteifreund von mir, aber wenn man ihn im Vergleich zu seinem aktiven Personal betrachtet... nun ja. Da sind halt viele Cleverles der zweiten Reihe unterwegs. Andererseits fehlt auch mir die große Vision (von Liebe und Geld und Steuerpflicht für alle mal abgesehen). Solches ausgesprochen, könnte ich fast Minister werden...

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Herr Baum schneidet im Vergleich zum aktiven Personal der FDP natürlich hervorragend ab, aber das klingt auch schon wieder wie "beste Curling-Mannschaft von West Subsahara". Wir sind in dem politischen Zeitalter angekommen, wo jeder, der sich hinstellt und zur Abwechslung nicht etwas sagt, das vollkommen irrsinnig (Laschet), lebensbedrohend (Gebauer) oder volksverhetzend (Maaßen) klingt, sofort Kanzler der Herzen ist. Also außer Frau Baerbock, die spielt nicht mit.

Dennoch - und das sage ich unbenommen allen Fantums, das ich Ihnen entgegen bringe: Kandidieren Sie nicht. Ich würde Sie nicht wählen. Der Job ist nix.

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Schade. Ich hoffte, wenigstens Alterspräsident werden zu können. Ich habe sogar so eine Tischglocke.

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Ja. Schade.

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