Mittwoch, 5. Januar 2022
Maniac
Ich habe eine Sache verstanden. Das ist ja immer erst mal gut, Verstehen ist der erste Schritt zur Akzeptanz. Ich bin manisch depressiv, allerdings jährlich wechselnd. 2020 alles schön, 2021 alles schlecht, 2022 perspektivisch alles wieder schön. Beruflich war es 2020 und 2021 genau andersrum, 2022 wird ein neues Jahr, welches buchhalterisch schon seit 4 Tagen quasi fertig ist, und jetzt nutze ich die verbleibende Zeit, um darüber nachzudenken, was ich eigentlich wirklich neben dem, was ich bereits mache und was ziemlich genau das ist, was ich machen möchte und was als Broterwerb sehr sinnvoll ist, noch machen möchte. Vor drei Jahren habe ich den Schritt gewagt, zu probieren, was passiert, wenn ich nur noch mache, was die Welt unterm Strich weiterbringt und mir Spaß macht, und erfreulicherweise kann ich im Januar 2022 sagen: Davon lebe ich gut, erst trotz, dann wegen Pandemie. Und wer hier ein paar Jahre mitgelesen hat, weiß, dass dieser Moment der Erkenntnis üblicherweise das erste Symptom einer drohenden Übersprungshandlung ist. Vielleicht kann ich mit meinem neuen Hobby, nämlich Wohnumgebungsneugestaltung, den Prozess noch ein wenig verlangsamen, aber sollte ich demnächst hier en passant fallenlassen, dass ich mich doch noch für ein Medizinstudium eingeschrieben habe, kontaktieren Sie bitte Frau N, dass sie umgehend eine Intervention einleitet. Danke.

Soweit ist also alles erst einmal sehr hervorragend. Ich weiß bis Dezember alles, was ich beruflich mache und was dabei rumkommt, habe ja bereits im letzten Jahr beschlossen, mehr Urlaub zu machen, und dieses Jahr exekutiere ich konsequent. Work hard, play hard. Nach dem großen Warnschuss 2017 hatte ich mir einst ein Modell überlegt und auch bis zum Auftritt der Pandemie durchgezogen: Jeden Monat einen kurzen Urlaub. Meist ganz langweilige Dinge. Mosel, Noordwijk, Mosel, Mosel, Mosel, Groß-Holum (an der Nordsee, da standen 3 Häuser, in Klein-Holum, also auf der anderen Straßenseite, standen nur 2 oder so ähnlich war das), Noordwijk, Mosel, Sie verstehen das Konzept. Das war schön, und in der Regel war es einfach so, dass am Freitag nach der Schule irgendwo hingefahren wurde, dann zwei Tage Meer oder Klamm oder irgendwas in oft zweifelhaften Unterkünften, aber der Erholungseffekt, wenn man sich zwei Wochen vorfreut, dann packt und einfach zwei Tage raus ist, war enorm. Ich weiß nicht, ob ich das in der Form wieder aufnehmen wollen würde, ich habe ja auch ein Sofa jetzt, aber ich hangele mich entlang der Jahreszeiten. Im Frühling fahre ich mit meiner kleinen Schwester, die am Sonntag 60 wird (moment, ich muss weinen, wie konnte das alles passieren?) an die Mosel. Im Sommer fahre ich zu Beginn der Ferien mit Frau Klugscheisser eine Woche irgendwohin, wo es schön ist, und gegen Ende der Ferien irgendwo anders hin mit einer anderen Person, beide Urlaube werden sehr luxuriös und sehr entspannend. Im Herbst werde ich mit Frau N eine Eselwanderung durch die Uckermark machen, was mich im Vorfeld maximal motivieren wird, endlich das doofe Metall aus dem Sprunggelenk operieren zu lassen, sonst muss der Esel mich ziehen. Win Win. Für den Winter habe ich noch keinen Plan, aber vielleicht werde ich zum ersten Mal in meinem Leben im Winter irgendwo hinfahren, wo es warm ist. Vielleicht auch nicht, wenn ich nach draußen gucke, kann man ja auch im Rheinland bleiben. Außerdem hatte ich Weihnachten 2021, das Jahr, an dem ich vom 22. bis 27. Dezember mehr gearbeitet habe als im gesamten November, der werten Familie angekündigt, dass ich nächstes Jahr das System umstelle von Ich-serviere-Weihnachtsgans-für-12-Leute zu 11-Leute-bringen-Sachen-mit-die-wir-hinterher-Buffet-nennen, und außer bei meiner Mutter, die sich das schlecht vorstellen konnte und in Tränen ausbrach, fanden das alle gut. Wobei ich das auch nicht als Vorschlag formuliert hatte.

In der Zwischenzeit werde ich entspannt abarbeiten, viel Zeit auf dem Sofa sitzen, ich werde politikverdrossen sein, das sieht an Frau N ganz herrlich entspannt aus und kommt unterm Strich ja auch aufs Gleiche raus, ich werde mich impfen lassen immer und immer wieder, vielleicht schaffe ich es sogar noch länger, nicht doch noch an irgendwas zwischen Omikron und Omega zu erkranken, mein Kind wird liegen und wachsen, mein Hund wird in seinem EXTRA FÜR SIE DAMIT SIE MIT DEM MITLEID AUFHÖREN KÖNNEN gekauften neuen Premiumhundebettchen liegen und abwechselnd sehr traurig und sehr fröhlich gucken, wie sich in den letzten Tagen abzeichnet, werden jeden Abend plötzlich entweder die einen oder die anderen Nachbarn vor der Türe stehen, wir werden uns weiter täglich testen (meine Güte) und dann, je nach Nachbarn vor der Türe, entweder Mario Party spielen oder Karaoke singen müssen, das ist nämlich scheinbar, was ich mit dem neuen, wohnlichen Wohnzimmer mitgekauft habe, viele Leute, die wegen des Sofas und dem Fernseher kommen und Super Mario oder Karaoke spielen wollen (ächz), und dann ist irgendwann das Jahr um, das Sofa wird bereits durchgesessen sein, aber ich werde zurückblicken und sagen: Das war besser als letztes Jahr.

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Kann das sein, dass Sie und Ihre kleine Schwester im vergangenen Jahr irgendwie schneller gealtert sind, gleich um mindestens ein ganzes Jahrzehnt?

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Meine kleine Schwester ist 15 Jahre älter als ich, meine große 17. Irgendwie hatte sich die Formulierung so eingeschliffen, aber in der Verwendung fällt auf, wie falsch sie ist.

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Ah, verstehe.

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