Donnerstag, 10. September 2020
Song to the siren
Manchmal denkt man ja, man würde einfach in der Mitte durchbrechen, so ein Tag war heute. Eigentlich waren viele Tage in den letzten zwei Wochen so, aber glücklicherweise habe ich ja ein paar Kanäle, die ich nutzen kann, um Dampf abzulassen. Konsum zum Beispiel.

Eigentlich begann alles mit einem kleinen Projekt, von dem Frau N. gestern noch sagte: "Wenn das alles vorbei ist, verbloggen wir das. Dann fühlen sich die Leute gut, weil auch vermeintlich kompetente Menschen so irre sein können." Hinzu kam sehr viel Schlafmangel, aus sehr schönen und weniger schönen Gründen, und die Müdigkeit und Angespanntheit kulminierte gestern in einem Abschiedsbesuch von Kaufhof und Karstadt. Wie Sie vielleicht wissen, machen die beiden Häuser am Wehrhahn in den nächsten Wochen zu, was ich persönlich absoluten Irrsinn finde. Ob man beide nebeneinander brauchte, ist eventuell eine berechtigte Frage, keins davon braucht man keinesfalls. Als ich vor 12 Jahren hierher zog, gab es drei Kaufhöfe in Düsseldorf, gut, das war eventuell was viel. Der eine war sehr klein, ab vom Schuss und pisselig, folgerichtig wurde der irgendwann geschlossen. Die anderen beiden verteilen sich auf die Königsallee, da gehen die Touristen hin, und auf den Wehrhahn, der wenig vom Glamour Düsseldorfs versprüht, da gehen wir Düsseldorfer hin.

Ich bin bekanntlich ein durch und durch gewohnheitsgetriebener Mensch. Wenn ich Dinge so tue, wie ich sie immer tue, brauche ich keinerlei Hirnkapazität, und das ist sehr gut, da ich die vorhandene Hirnkapazität dann dort einsetzen kann, wo sie wirklich gebraucht wird. Und deshalb ist mein Leben jetzt leider viel schlechter als zuvor. Ich habe wirklich, wirklich keine Ahnung, wo Menschen Socken kaufen. Ich kaufe Socken im Kaufhof. Mein ganzes Leben schon. Und ich fahre dafür ja nun wirklich nicht auf die Königsallee, um da zwischen Ihnen, also den Non-Locals, Socken zu kaufen. Das geht nicht. Und vermutlich muss ich auch Jonathan aus der Schule nehmen, denn Schulzubehör kaufte ich in den letzten 6 Jahren auch dort. Auf der Kö gibt es bestimmt eine Champagnerbar (ist geraten jetzt, halte ich aber für höchstwahrscheinlich), aber kann ich da auch die Lateinhefte mit dem extrabreiten Rand kaufen? Und selbst, wenn ich das könnte, wo würde ich parken, wenn ich mit dem Auto unterwegs wäre? Am Wehrhahn parke ich ja üblicherweise so:



Das Parkhaus hat nämlich 8 Parkdecks, und alle Menschen denken, dass die Logik sei: Je tiefer, desto besser. Ich sage: 8 ist das beste Parkdeck, da denkt nämlich keiner dran, und man kann direkt mit dem Aufzug in die Sockenabteilung fahren. Jetzt, wo ich all diese Dinge weiß und mein Leben komplett darauf eingestellt habe, macht der Kaufhof zu, obwohl er immer rappelvoll ist. Ich denke, an mangelndem Zulauf kann es nicht liegen, antizipiere aber, dass in näherer Zukunft einfach ein mittelpreisiges Hotel und ein hochpreisiges Parkhaus dort stattfinden werden. Das bringt sicherlich die bessere Marge, und die Düsseldorfer können dann halt gucken, wo sie ihre Socken kaufen. Von den Mitarbeitern mal ganz abgesehen.

Alle Waren sind drastisch reduziert, die wenigen Mitarbeiter, die noch da sind, vermitteln einem aber nicht den Eindruck, als könne man beherzt zuschlagen. Die Stimmung ist sehr gedrückt. Für eine Tageszeitung musste ich vor vielen Jahren mal einem letzten Tag einer Hortenfiliale beiwohnen, und die Stimmung, das Unglück des Personals und die Ahnungslosigkeit, wo man jetzt Wolle kauft (meine Mutter) habe ich noch sehr genau gespeichert. Insgesamt bin ich mit 2 Shampoos, etwas DUB und einer abgestempelten Parkkarte wieder gegangen, nachdem ich mich schweren Herzens verabschiedet habe. Noch einmal werde ich nicht hinfahren. Es fühlt sich an wie Leichenfledderei, und ich möchte das Haus, in dem ich jede einzelne Socke und jedes einzelne Kleidungsstück für Jonathan gekauft habe, in anderer Erinnerung behalten. Ich würde übrigens zu jedem Zeitpunkt nach Neuss fahren, wenn ich Schulhefte brauche und die Köfiliale meiden möchte, aber wenn ich es richtig verstanden habe, sieht es da nicht anders aus. Eine Schande. Auf allen Ebenen.

Heute war also dann der erste Warntag, und für meinen Teil, also den Düsseldorfer Norden, kann ich sagen: Ich fühle mich ausreichend gewarnt. Glücklicherweise fiel mir noch rechtzeitig ein, meine Mutter zu erinnern, damit die nicht denkt, sie müsse sich im Bunker verstecken, und dann kam der Test, der ergab, dass ich ganze 3 Sirenen aus meiner Wohnung hören kann. Die Zombieapokalypse kann kommen. (Extrem gelungene Überleitung)

Wenn sie dann da ist, die Zombieapokalypse, werde ich ganz hervorragend riechen, ich habe nämlich heute vom Fachmann gelernt, wie man Parfum richtig appliziert. Little did I know. Grundsätzlich werde ich immer komplizierter, was Düfte betrifft, genaugenommen benutze ich 2, die es jeweils nur in einer einzigen Parfümerie in großem Umkreis zu kaufen gibt, praktischerweise ist das aber nicht die gleiche. Heute war also alles sehr anstrengend und fühlte sich zwischenzeitlich ein wenig an wie innere Zombieapokalypse, also beschloss ich irgendwann, den Griffel fallenzulassen und zu bewerkstelligen, dass ich so rieche, wie ich gerade riechen sollte: Nicht frischgewaschen und zitronig, nicht nach Frau und rosig, sondern wie jemand ganz Patentes, so ein Mensch, dessen Sillage schon vor der Person im Raum ist, wo man weiß: Obacht, jetzt kommt geballte Lebenserfahrung und Kompetenz. Das gab es nur in einer Parfümerie in der Stadt zu kaufen, und da ich dort so unfassbar gut beraten wurde, teile ich mit Ihnen, wo das ist und freue mich auf die Abmahnung: Ich war in der Parfümerie Nagelschmitz in Oberkassel. Da ich wusste, was ich möchte, brauchte ich keine Beratung (Beratung auch gerne mit Termin, damit man sich Zeit nehmen kann), und der ältere Herr im Anzug mit der sehr leisen, zurückgenommenen Art, erklärte mir, wie man (zumindest die sehr intensiven) Parfums richtig aufträgt: Man duscht, stellt sich nackt ins Bad, sprüht einmal über sich in die Luft und dreht sich dann für etwa 10 Sekunden unter dem Nebel. Für eine Abendveranstaltung ohne Essen kann man gerne auch zweimal sprühen und sich mit ausgebreiteten Armen drehen. Ich war erstaunt, das war mir nämlich neu. Aber ich kann das sehr gut brauchen, da mein inkompetentes Damenparfum ebenfalls sehr intensiv ist, und ich habe zwischenzeitlich die Lösung entwickelt, dass ich nur einen Finger ansprühe und dann einzelne Stellen antupfe. Die neue Variante vom Regentanz im Bad ist die deutlich überlegene, scheint mir. Darüberhinaus gab es noch eine Reihe von Ratschlägen, die ich mit allergrößtem Interesse annahm: Die zu parfümierenden Stellen, wenn man keinen Regentanz machen möchte, sind Armbeugen, Bauchdecke und Kniekehlen. Hals und Handgelenke kann man gerne mit so einem Quatschparfum aus dem Kaufhaus besprühen. Am Abend geht auch der Nacken noch, aber nur, wenn man nicht essen geht, sonst stört das eventuell den Geschmackssinn. Sprüher gab es als Geschenk dazu (oder, wie ich später sah, der war in der Marge reingerechnet, auf der Webseite des Herstellers kostete das Parfum nur 2/3 des Preises, aber ich wäre irgendwann gestorben, ohne zu wissen, wie man sich richtig parfümiert), denn man darf nie träufeln, man muss immer sprühen. Wenn das Parfum auf der Haut anders riecht als auf der Duftkarte, dann hat man was Falsches gegessen (ich hatte gestern Salat mit Obst, kein Grieche, das ist für den Parfumeur der Tod, der Grieche!), und - und das ist das Allerwichtigste - man trägt den Duft nur für sich. Einiges wusste ich schon, Vieles war neu. Nutzen Sie es!

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Sonntag, 6. September 2020
Pulled to bits
Nach kurzer Rücksprache mit Frau Kaltmamsell darf ich heute mit Ihnen über Sportarten sprechen. Meine und Onas, ich spoilere aber: Am Ende kulminiert alles.

Wenn ich meine Kindheit und Jugend beschreiben muss, weiß ich eigentlich gar nichts mehr. Genau genommen habe ich genau zwei Dinge gemacht, 18 Jahre lang: Musik und Sport. Letzteres war noch mal in zwei Disziplinen unterteilt, nämlich Dressurreiten (wollte ich) und Handball (wollten meine Eltern), zwei Sportarten, die nicht weiter voneinander entfernt sein konnten. Reiten hab ich mir gesucht, Ponymädchen, die ganz harte Schule, sehr viel runtergefallen, nie aufgegeben. Die Phase war irgendwann vorbei, es kam das in vielen durchwachten Nächten heißersehnte Pferd, und ab dem Tag war es nicht mehr "Reiten", sondern "Dressur", ein Sport, der zwei Dinge perfekt vereinte: meine Liebe fürs Pferd und einen gewissen Hang zur Ästhetik. Mit Zylinder und Jackett sieht man gut aus, da beißt die Maus keinen Faden ab, um mal einen schlechten Spruch zu bemühen. Ich habe das lange verfolgt, aber die Geschichte ist langweilig.

Meine Eltern waren sich nicht sicher, ob meine Persönlichkeit mit - ich zitiere meinen Vater - "dem Arsch auf nem Gaul rumrutschen" vollumfänglich abgebildet sei, und auch, wenn ich ihn damals ein bisschen gehasst habe, bin ich ihm heute sehr dankbar: Ich musste mir mit 6 einen "Ausgleichssport" suchen. Nun bin ich sehr suburban aufgewachsen, und da das Hauptkriterium meiner Eltern war, dass ich den Ausgleichssport mit dem Rad erreichen konnte, weil die Reiterei schon 6 Tage in der Woche rumkutschieren bedeutete - hatte ich komplett freie Auswahl zwischen Trampolinspringen und Handball. Hätte ich wirklich entscheiden dürfen, hätte ich Volleyball spielen wollen, auch dort sehe ich eine gewisse Schönheit im Bewegungsablauf, es gibt keinen Körperkontakt, etc., aber obwohl der Nachbarverein in den Jahren regelmäßig Deutscher Meister wurde, sahen meine Eltern mich im Winter im Regen nicht mit dem Rad dorthin fahren (vermutlich hatten sie Recht), und ich wählte Handball. Trampolinspringen halte ich für die nach Rhönradfahren überschätzteste Sportart, aber unser Dorfverein war damals sehr in Aufruhr, da die spätere Weltmeisterin Hiltrud Roewe ja Nachbarskind war. Ihretwegen wurde dann pünktlich zu meiner anstehenden Entscheidung das Hallendach angepasst, und es wurden zwei kleine, wirklich winzig kleine Kuppeln eingelassen, damit man sich beim Springen nicht den Kopf stößt. Das war mir unheimlich. Ein bisschen zu weit rechts - tot. Ich wählte Handball.

Handball ist das Geige der Ballsportarten. Ich kann ja leider überhaupt nichts Qualifiziertes über Fußball sagen, aber mir scheint, dass die initiale Anforderung, wenn man gegen einen Ball treten muss, recht gering ist. Im Handball ist die Lernkurve steil, die ersten Monate bis Jahre kann man sich das sehr schlecht ansehen. Man muss wirklich gut werfen können, aber - und das ist viel wichtiger - man muss wirklich gut fangen können, und der Ball ist klein. Bis das richtig sitzt und man auch schwierige Pässe fängt, steht man gut und gerne schon drei Jahre auf der Platte. Ich fing also mit 6 an, dann trainierten wir etwa ein Jahr lang, dann spielten wir die erste Saison Kreisklasse, und zwar als einzige Mädchenmannschaft. Ich kann es nicht mehr ganz genau sagen, was unser bestes Spiel war, aber 40 Gegentore war sehr üblich, und ich erinnere mich sogar noch sehr gut daran, wie wir vor 37 Jahren gefeiert haben, als wir in der Rückrunde vollkommen unerwartet ein Tor warfen. Nun waren wir ja keine Millennials, daher ist damals kaum eine von uns abgesprungen. Ich nehme vorweg: Ab der nächsten Saison, also der ersten, in der wir nur noch gegen andere Mädchenmannschaften spielten, bis zur B-Jugend waren wir jede Saison Meister oder Vizemeister. Drei unserer Spielerinnen spielten später 1. Bundesliga, 1 Nationalmannschaft. Der Schlüssel zum Glück lautet manchmal Resilienz.

Ich spule mal kurz viele Jahre vor und erkläre Jonathans sportliche Laufbahn bis zu diesem Punkt. Der war ja zeitlebens sehr groß und sehr kräftig, nicht in Form von dick, sondern in Form von sehr viel Kraft haben. Das brachte recht früh, mit 4 oder 5, den Kinderarzt dazu, zu denken, dass man das Kinderturnen (wollen Sie mal was wirklich Schlimmes erleben? Gehen Sie bitte mit Ihrem Kind zum Kinderturnen!) um eine Sportart erweitern solle, wo er das Kanalisieren von Kraft lernen kann. Judo zum Beispiel. Also gingen wir zur Judo Schnupperstunde. Mit mir auf der Bank ganz, ganz schlimme Mütter, aber Ona hatte in der Turnhalle beim Aufwärmen sehr viel Spaß. Irgendwann mussten dann Zweiergruppen gebildet werden, und wer bleibt ja immer übrig? Der Neue und das eher sehr unsportliche Kind. Jedenfalls bildete der zwar hochgewachsene, aber zierliche Vierjährige ein Team mit einer wirklich sehr properen Sechsjährigen, die eventuell das Doppelte von ihm an Masse mitbrachte. Die Aufgabe: Gegner zu Boden bringen und fixieren.

Ich muss nicht ins Detail gehen, ich denke, Sie wissen, was passierte. Anpfiff, die Gegnerin schubste Ona einfach um und setzte sich drauf, und dann schrie mein Kind gefühlt viel zu lange. Ich gehörte (damals) nicht zu dem Müttern, die sich einbringen wollen und sich wie eine Löwin am Trainer vorbei schützend vor ihr Kind werfen. Manchmal dachte ich im Nachhinein, dass das aber vielleicht eine gute Idee gewesen wäre. Er schrie und schrie, das Mädchen saß und saß, nach viel zu langer Zeit kam der Abpfiff, und sie stand wieder auf. Ona auch, er lief sehr sortiert zu mir an die Bank und sagte: "Mama, ich bin fertig mit Judo." 7 Jahre später kann ich sagen: Hat sich nicht mehr aufgelöst, der Knoten.

Dann kam Fußball, das war vermutlich von Beginn an die allergrößte Angst, ab der Sekunde, in der ich wusste, dass ich einen Jungen großziehen würde. Fußball war schlimm, und ich werde hier ja nur tolle Dinge über ihn schreiben, daher werde ich es dabei belassen: Das war nicht Onas Sport. Meiner auch nicht, die anderen Eltern waren teils unerträglich, mehr als einmal hat der Mann seine Körpergröße nutzen müssen, um andere Väter vom Platz zu begleiten, die ihre Sechsjährigen anfeuerten mit "hau ihm auf die Fresse". Und dann war man ja immer draußen, es war zu kalt oder zu warm, meist regnete es. Insgesamt war einer der schönsten Tage in meinem Leben, als Jonathan zu mir sagte: "Mama, ich bin fertig mit Fußball."

Ich habe damals schon immer gesehen, dass er eigentlich ein Handballer ist. Lang, recht athletisch und immens viel Wumms im Arm. Werfen haben wir von klein an geübt, da ich ja nicht schießen kann (Apfel, Stamm, etc.) Leider hatte ich ihm aber irgendwann mal erzählt, dass Handball auch die ein oder andere körperlich schmerzhafte Komponente hat, daher weigerte er sich beharrlich, denn "so einen brutalen Sport" wollte er nicht machen. (Hier ist eine Botschaft versteckt.) Schwimmen fand er toll, also wurde geschwommen, er machte Bronze und Silber, für Gold war er zu jung mit 8, hat die Prüfung zwar abgelegt und dann kein Abzeichen bekommen. Zack, Interesse verloren. Pädagogisch auch echt albern.

Dann wurde mein Leben vermeintlich schön. Onas Klassenkamerad ging in den Handballverein und nahm ihn mal mit, und nach 30 Sekunden auf der Platte war es klar. Ona spielt Handball. Mein Herz wurde ganz groß, ich holte meine Adidas Handball Spezial aus dem Schrank und litt dann für weitere 3 Jahre. (Kleiner Exkurs über die Disziplin).

Geige der Ballsportarten, ich erwähnte es bereits. Man muss leider erst mal 1000 Dinge lernen, bevor auch nur annähernd so etwas wie ein Spiel zustande kommt. Handballthemen habe ich in der Vergangenheit unter Klarnamen vertwittert, aber die Beobachtung, dass Ballbesitz reiner Zufall ist, hat mich in den letzten 3 Jahren einiges an Nerven gekostet. Wenn 12 Jungs auf dem Feld stehen und ziellos rumlaufen, von denen alle ein bisschen werfen und fangen können, leider aber keiner wirklich, dann muss man sehr viel Geduld und Hoffnung auf spätere Zeiten aufbringen. Doch irgendwann platzt der Knoten, und dann spielen sie, und dann hält es mich kaum mehr auf der Tribüne.

Interessant ist, dass ich zwar nur knapp 13 Jahre gespielt habe, jedoch recht hoch und in einer wirklich guten Mannschaft, aber das Körpergefühl kann ich auch nach vielen Jahren gut im Kopf reproduzieren. Die Bewegungsabläufe nicht, das ist ein bisschen schade. Sprungwurf haben wir im Garten gelernt. Ich habe die Theorie erklärt, und irgendwann den Ball genommen, links rechts links Sprung, dann riesiges Gelächter. Womit ich mit 18 über jede Deckung gekommen wäre, würde heute kaum mehr reichen, um einen Grashalm zu überspringen. Da aber das gesamte Gefühl für den Ablauf noch da ist, gehe ich mal davon aus, dass ich jetzt einfach nur ein Jahr hart trainieren müsste, schon wäre alles wieder da. Testen können wir das leider nicht, who has the time. Und mein Fuß war ja quasi ab. Zu Beginn des Lockdowns haben wir das Tor wieder in Garten aufgebaut und abends einfach stundenlang den Ball hin und her geworfen. Wie Irre. Aber seitdem kann er fangen. Alles. (Okay, nicht alles. Wir waren bei vielen Länderspielen auf der Tribüne, und wenn ich sehe, wie die Herren sich zu zweit über die Breite des Feldes einhändig warmwerfen, kann ich nur staunen). Für die D Jugend jedenfalls.

Wenn ich die Jungs wie heute morgen spielen sehe und es läuft wirklich wirklich gut (er spielt Auswahlmannschaft, die können werfen und fangen), dann weiß ich ganz genau, wie es sich anfühlt, was gerade passiert. Das ist ein lustiger Effekt. Handball ist ein Sport, in dem sehr viel gefühlt wird, gerne Schmerz. Es gibt keinerlei Eleganz, alles geht wahnsinnig schnell, und es wird nie getrabt. Stehen (naja, nicht wirklich) oder sprinten, nichts dazwischen. Ona ist als Spieler die perfekte Kopie von mir, er spielt sogar auf der gleichen Position. Ich habe zeitlebens halb rechts und Kreis gespielt, da ich groß war und geworfen habe wie ein Kerl. Ich war nicht schnell, Ona wäre schnell, er könnte aber noch an seiner Reaktionsschnelle arbeiten, ist aber noch viel Zeit, ich war auch nicht wendig, ich war auch wirklich keine Ballkünstlerin, aber wenn ich zum Wurf kam, war halt Tor. Viele Jahre lang habe ich grundsätzlich alle 7 Meter geworfen, im Nachhinein vermutlich auch nur ein Symptom meines Hangs zur maximalen Effizienz.

Handball tut weh, und auch da kann man nix werden, wenn man nicht lernt, sich zu trauen. Wer full speed auf eine böse guckende Abwehr zuläuft und dann entscheidet, einfach drüber zu werfen, der weiß, dass es gleich wehtun wird. Wer weiß, dass man jetzt einen Freiwurf braucht, sucht ein Foul (quatsch, ist ja verboten!), takes one for the team, und steht wieder auf. Mehrere Meter Hautschichten lässt man über die Jahre auf dem Hallenboden zurück, und wenn man nicht geblutet hat, hat man nicht gespielt. Das ist natürlich sehr überspitzt, aber es ist halt nicht Babykatzenstreicheln. Ich weiß nicht, wie man das lernt und welche Prozesse ablaufen, aber über die Jahre hat man raus, was wo gleich weh tut, und dann ist man vorbereitet und macht das Tor dennoch. Ich war dreimal schwerer verletzt, und ich habe einer Torfrau beim 7 Meter die Nase gebrochen. Mitten in den Ball gesprungen, dann umgefallen. Das ist über 25 Jahre her, ich träume das Bild aber noch manchmal. Am Kreis wird gekniffen, getreten, geschubst und an den Haaren gezogen. Ich trug viele Jahre eine 12mm Frisur. Weil der Sport an sich schon so körperlich und verletzungsintensiv ist, halte ich in Onas Alter übrigens für eine der Hauptaufgaben, den Kindern Fair Play beizubringen. Weh tut es auch so, aber wenn bewusst unfair gespielt wird, ist die Schwelle zu gefährlich schnell überschritten. Jonathans Trainer sind hart aber extrem sportlich, und da kann man etwas lernen, was weit über den Sport hinaus trägt. Nicht alle machen das so.

Es tut aber nicht nur weh, sonst würde es ja keiner machen. Es gibt die Momente, die unfassbar viel Adrenalin freisetzen und belohnen für alles, was man an Hautschichten verloren hat. Wenn man einen Spielzug mit vielen Stationen so oft zuhause trainiert hat, dass man im Spiel einfach blind genau weiß, wann man losläuft, wo der Ball kommt und wann man wirft, und wenn das gut klappt, macht man das zwei Angriffe später noch mal, und manchmal hat man einen Spielzug, mit dem man den Gegner zigmal hintereinander verzweifelt stehen lässt. Das ist großartig. Oder das Gefühl, wenn man im Tempogegenstoß ganz entspannt mutterseelenallein auf das Tor zuläuft und weiß, dass die Torfrau sich gerade denkt "Okay, moment, ich geh zur Seite", und wenn man dann freundlich lächelnd auf sie zuspringt, dann ist das kaum zu übertreffen. (Wenn man den dann verwirft, weil man zu überheblich war, möchte man übrigens sofort sterben.)

Und man lernt, sich zurück zu nehmen. Das ist für Ona eventuell das Schwierigste. Jeder will gerne selber das Tor werfen, gerade mit 11. Aber manchmal steht man im Angriff halt vor jemandem, an dem man schlecht vorbei kommt, und der Nachbar steht frei. Dann muss man abspielen. K., der Spielmacher in Onas Team, war heute on fire. 11 Tore in der ersten Halbzeit, die meisten nach Onas Pass. Ein Elfjähriger ist nach dem Spiel dann traurig. Im Mannschaftssport ist aber ja das Ziel, dass die Mannschaft gewinnt, und wenn man 20-8 gewinnt, muss man nicht traurig sein, dass man selber nicht getroffen hat, sondern nur mit vorbereiten durfte. Kann man auch schon wieder was lernen.

Das ist übrigens im Handball eine interessante Hybris: Bei aller Aggression und Verbissenheit, bei aller überbordender Körperlichkeit, muss jeder auf dem Feld sich maximal zurücknehmen können, denn ab einem gewissen Level gehen Alleingänge nicht mehr durch. Es gibt Kinder, die technisch hervorragend sind und es nicht in die Auswahl geschafft haben, da sie nicht gut zu steuern sind. Für Einzelkämpfer gibt es wenig Toleranz, es wird über 6 Stationen gespielt, und da muss jede Station das machen, was insgesamt hilft. Und nur einer wirft, das ist halt so.

Jetzt, wo ich so das Ende herbeisehne, ist ja auch schon spät, wird mir klar, dass es jetzt eine sehr elegante Wendung gewesen wäre, wenn ich irgendwas Kontrastives mit Fußball zum Abschluss gemacht hätte. Da ich aber ja nichts über Fußball weiß (ich kenne allerdings die Abseitsregel und kann das Standardwerk So werde ich Heribert Faßbender: Grund-, Aufbau-, Meister- und Zukunftswortschatz Fußballreportage nahe zu auswendig), muss das leider ausfallen. Fazit: Handball tut weh, aber man kann viel lernen.

Nachtrag.

Natürlich weiß ich was über Fußball. Nämlich dass für eine Handballerin so ein am Boden liegender leidender Italiener wirklich saukomisch ist.

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Samstag, 5. September 2020
Creep (STP, vorzugsweise unplugged)
Wenn man sich gut einbringt, soll das natürlich belohnt werden, positive Verstärkung, funktioniert beim Hund, hoffentlich auch bei der Kollegin Kaltmamsell. Die bat ja neulich um Blogposts, in denen sie sich wiederfinden kann und machte auch direkt Themenvorschläge. Das soll natürlich belohnt werden. Gucken Sie sich das gerne ab.

An mehreren Stellen musste ich heute an Situationen aus meinem Arbeitsleben denken, also entschloss ich mich dazu, diese alle zu bündeln und unter dem thematischen Dach "Crazy people I met on the job" zu publizieren. Nun ja, dann dachte ich stundenlang im Hinterkopf darüber nach, was ich alles weglassen muss, immerhin hätte ich ja Material für ein Buch. Das mag meinem komplizierten Werdegang geschuldet sein. Die Jahre des Studiums lasse ich weg, wenngleich ich mit 3 Jobs, die aber alle irgendwie lustig waren (Laufschuhe verkaufen im Sportladen, da kann man doofe Leute vom Laufband fallen lassen, wenn man schlecht behandelt wird, würde aber ja keiner machen), feste Freie bei einer Tageszeitung, (wo mir einst ein Volo angeboten wurde, das ich ablehnte, weil ich ja einen anderen Beruf ergreifen wollte, und wo ich dann folgerichtig erklärt kriegte, ich würde mich noch mal nackt an den Schreibtisch ketten und um einen Job betteln (nicht passiert)), und Fremdsprachenkurse an der Volkshochschule, (der Job, in dem ich lernte, ich möchte nichts mit Menschen machen). Da waren auch Irre, aber es gab keinen strukturellen Phänotyp. Daher spulen wir vor: Examen, erster Job.

Der Job war doof. Der Professor, der mir dankenswerterweise eine halbe beschissene Mitarbeiterstelle irgendwo rauserpresst hatte, war selber gar nicht so interessiert an Arbeiten, muss man aber ja auch nicht, wenn man Mitarbeiter hat. Von den Kollegen, die dort mit mir versucht haben, zu promovieren, hat niemals jemand die Arbeit je fertig geschrieben. Aber ich wollte über Irre sprechen. Der Sprung ist kurz. An dem Institut gab es damals 4 Linguistik Professoren, keiner spielte irgendwo außerhalb seines eigenen Proseminars für irgendetwas irgendeine Rolle. Publiziert wurde gar nicht oder schlecht, und die gesamte Energie wurde in Kämpfe untereinander gesteckt. Keine Sekunde konnten die 4 in einem Raum oder einer Gremiensitzung sein, ohne dass sofort die ganze Welt implodierte. Das Interessante daran: Hauptmotor war Eitelkeit. Jeder was so eitel, so egozentrisch, dass die Anderen, die sich übrigens alle sehr stark thematisch unterschieden, keine Daseinsberechtigung hatten. Sobald man mal aus dem Orkus raus war, merkte man schnell, dass von den Vieren eigentlich keiner eine Daseinsberechtigung hatte, weder in Lehre, noch in Forschung. Gremienarbeit auch nicht, das musste ja an die Mitarbeiter ausgelagert werden wegen Krieg. Ich fand das alles sehr schwierig damals, muss aber im Nachhinein betrachtet sagen: Das waren schlechte Irre, die sich fürchterlich benahmen, weil ihnen der unverdient geführte Titel zu Kopf gestiegen war. Mehr kann man dazu eigentlich gar nicht sagen, die waren langweilig. (Bitte fühlen Sie sich ermutigt, in den Kommentaren ausführlich den Unterschied zwischen Titel und Grad zu besprechen. Ich hab Dr. und Prof. beide getragen und weiß, dass da irgendwas kompliziert war, aber unterm Strich ist es auch wirklich egal.) Was ich übrigens in den folgenden Jahren an ausländischen Universitäten nie mehr angetroffen habe, war der Wunsch, mit irgendwelchen Titeln oder Graden angesprochen zu werden. We just don't do that.

Nach einem Auffahrunfall mit einem Karmann Ghia wechselte ich das Land und landete aus Versehen mitten in der echten Wissenschaft. Also bei den Leuten, deren Bücher ich im Studium lesen mussten, die das Feld international anführten. Und dort lernte ich eine neue Kategorie Irre kennen: die guten Irren. Meine erste Station führte mich zurück in die Niederlande, und dort fand ich ein sehr internationales, ausnahmslos großartiges Kollegium vor. Alle. Wirklich alle hatten irgendwo einen an der Waffel, aber immer charmant und immer in Kombination mit hervorragender, bahnbrechender Arbeit. Vermutlich hatte ich auch einen an der Waffel, zumindest passte ich mich in allerkürzester Zeit an. Ich erinnere mich an ein Mittagessen in Woche 2 mit Kollegen, als eine Professorin an unseren Tisch kam, vor der alle Angst hatten. Sie sah mich an und sagte: "Who are you?" Ich antwortete brav und sagte: "And who are you?" - "You don't know that? Well, I like you. Let's have coffee later." Natürlich wusste ich, wer sie war, aber Angst darf man nicht zeigen, und bis zum Ende war sie eine meiner engsten Vertrauten dort. Sie war ganz großartig, sehr warm, sehr empathisch, aber nur mit Türe zu beim Kaffee. Doktorandin von Chomsky, dem größten Irren aller Zeiten (ja, ich weiß, Sie kennen ihn als Politiker, da mag er top sein. Als Mensch ist er ein absoluter Totalschaden) und alle, unter oder neben denen ich in den nächsten Jahren gearbeitet habe, kamen direkt vom MIT und hatten anscheinend das gleiche Trauma davongetragen. Nur, wer so aggressiv sein konnte wie er, konnte bestehen. Innerhalb von zwei Wochen hatte ich mir übrigens einen Beinamen erarbeitet, den ein anderer Professor beim Kennenlernen sagte: "Oh, jij bent het meisje met de mening", du bist das Mädchen mit der Meinung. Er meinte das nett, irgendwann habe ich aber darum gebeten, nicht mehr so genannt zu werden. Ich war erstens mit 27 eventuell nicht mehr "das Mädchen", und das Vertreten einer Meinung, oder sagen wir vielleicht lieber eines Standpunktes, ist ja eine zentrale Aufgabe in der Wissenschaft, folglich fand ich die Bezeichnung redundant. Der zweite Punkt, wo ich sicherlich nicht ganz normgerecht auftrat, war meine immense Flugangst, die dazu führte, dass ich im ersten Jahr nur begleitet fliegen durfte, weil mein ausgeprägter Fluchtinstinkt nicht erlaubt hätte, alleine in ein Flugzeug zu steigen. An dieser Stelle danke ich den Vereinigten Staaten von Amerika sehr, die so nett waren, mich auf die TSA No Fly Liste zu setzen, was bewirkte, dass ich in allerkürzester Zeit von 'fear of flying' zu 'fear of immigrating' wechselte und jede Sekunde genoss, die ich in der Luft verbrachte. Aber das hebe ich mir für ein anderes Mal auf (oder hatten wir das hier schon? Das kann Frau N. sicher sagen.)

Im Vergleich mit der ersten Uni fand ich dort ja sehr interessant, dass in der Sekunde, wo man inhaltlich kämpfen kann, das auch getan wird. Die Lehrstühle waren sich untereinander auch nicht sonderlich gewogen, das hatte aber rein gar nichts mit Eitelkeiten oder Profilneurosen zu tun, sondern mit ernstzunehmenden inhaltlichen Divergenzen. Und die konnten beim Bier immer gut aufgelöst werden.

Heute Morgen sagte ich noch zu Frau N., dass man manchmal Angst haben muss, um zu lernen, wie man mutig ist. Das habe ich in den ersten Jahren dort gut lernen können. Einmal war ich sehr mutig und äußerte eine kleine inhaltliche Kritik am großen Meister persönlich, was ihn so erzürnte, dass er mich coram publico "stupid, ignorant girl" nannte. Das war mein Durchbruch. Wer es schafft, so auf Chomskys Radar zu fliegen, der muss ja für irgendwas gut sein. Folgerichtig durfte ich dann die nächsten Jahre im theoretischen Gegenlager bei meinem neuen Doktorvater in Stanford verbringen. Und hier bräuchte man jetzt ein Buch. Ich versuche, nur ein paar Rosinen rauszupicken.

Wir befinden uns ja auf einer Skala, wenn Sie gut aufgepasst haben. Uni 1: Schlechte bis keine Wissenschaft, viel Ego, viel Profilneurose. Krieg. Uni 2: Sehr gute Wissenschaft, wenig Profilneurosen, viele persönliche "Quirks". Uni 3: Durchweg alle medikamentiert, aber alles, was dort aufgeschrieben wurde, war pures Gold.

Ich landete donnerstags in San Francisco, bezog meine Wohnung, schlief ein bisschen und fuhr freitags erstmals an die Uni. Jeden Freitag ist (oder war?) dort Kolloquium, da wird irgendeine Koryphäe eingeflogen, die spricht 90 Minuten zu den Mitarbeitern über neueste Erkenntnisse, danach wird (wurde?) indisches Essen geliefert. (An deutschen Unis ist ja auch immer Kolloquium, da sprechen einfach die Mitarbeiter selber und man bringt sich eine Flasche Wasser aus dem Büroschrank mit). Jedenfalls lief ich in den noch fast leeren Raum, in dem ich sein sollte und setzte mich in die letzte Reihe. Ich trug - und das ist wichtig - komplett schwarz mit roten höheren Schuhen. Vor mir saß die Frau, deren Hauptwerk ich im Examen bestimmt 10 mal gelesen hatte, die schlauste, tollste, beeindruckendste Frau der Welt. Inhaltlich. Sie drehte sich zu mir um, sagte hallo, ich sagte auch hallo, sagte kurz, dass ich ja die Neue sei, dann fiel ihr Blick auf meinen Schuh, und dann blieb sie etwa 2 Stunden in dieser Pose hängen. Umgedreht, Blick auf meine überschlagenen Beine, Fokus auf den Fuß. Ich kann das nicht mehr in Worte fassen, wie sehr ich sterben wollte. Mein europäischer Chef war auch schon wach und ich chattete ausführlich zu der Situation mit ihm, auflösen konnten wir sie nicht. Alle, die in den Raum kamen, fanden offensichtlich die Pose sehr normal, keiner guckte irritiert. Ich habe das in den nächsten zwei Jahren für mich zu nutzen gelernt. Wann immer ich einen Termin mit ihr hatte, den ich aus Gründen der sozialen Verpflichtung nicht gut vorbereitet hatte, lenkte ich sie mit irgendetwas ab. Ich kaufte mir sogar eine Kette, Schuhe sah sie unterm Schreibtisch nicht. Die ungeschriebene Regel war: Wenn sie nach 15 Minuten immer noch nicht reagiert, durfte man gehen.

Einmal fuhren wir alle zusammen nach Berkeley zu einer Konferenz, sie hielt die Keynote. Nun muss man noch dazu sagen, dass sie unter 1,60m groß ist und eine sehr zarte Stimme hat. Sie wurde hinter ein viel zu großes Pult gestellt, so dass sie ihre Aufzeichnungen nicht sehen konnten, wir sie aber auch nicht. Und dann redete sie 90 Minuten. Jeder andere hätte irgendetwas gemacht. Ich hätte zum Beispiel einfach einen Schritt nach rechts gemacht. Dann hätte man halt ohne Pult gesprochen. Sie war so nicht. Sie verharrte in dieser Position und sprach den Vortrag bis zum letzten Wort blind und unsichtbar durch. Einer ihrer Doktoranden, mit dem ich, naja, viel Zeit verbrachte, sagte mal irgendwann in einem Moment der Ruhe: "One day I'll go into her office, and I'll take an article from the A-shelf and put it back in in the c-shelf, and then she's DEAD!"

Sie war sicherlich das äußere Extrem auf der Skala der guten Irren, aber sie schlug das restliche Personal wirklich nicht um Längen. Irrsinn hat viele Facetten, und die alle konnte man dort kennenlernen. Aber dennoch waren alle Leute großartig. Irre, aber großartig. Die andere Seite der Medaille war, dass jeder in seinem oder ihren Bereich unter den Top 3 weltweit spielte. Mindestens. Die Dame hinterm Pult ist unerreicht. Alles, was ich an Hirnkapazität aufbringen muss, um um das Pult zu gehen, ein Bier zu trinken, etc., spart sie sich für den nächsten Artikel auf. Alle hatten sich untereinander gern. Der Endgegner saß am MIT.

Um in so einer Umgebung bestehen zu können, hilft nur lesen, lesen, lesen, und jeden Tag Angst haben, dass man ab heute nicht mehr mitkommt. Um mich hin und wieder abzulenken, begann ich, lustige Biographien von Mathematikern zu lesen. (Nebenbemerkung: Meine Erdös-Zahl ist 5. Immerhin! Die von Frau Merkel übrigens auch.) Und dabei würde mir eine Sache sehr klar. Um solche unfassbaren intellektuellen Höchstleistungen zu erbringen wie die Kollegen dort, ist es sehr hilfreich, wenn man nichts auf der Welt hat, was einem den Fokus nimmt. Ich weiß gar nicht, wie viele Jungfrauen es dort gab, viele, tippe ich. Bier? No way, man muss ja noch denken. Irgendwann kam mein niederländischer Doktorvater mich besuchen, und ich teilte eine wirklich wichtige Einsicht mit ihm: Ich reiche nicht für hier. Ich kann zuhause gut mitspielen, aber ich muss auch mal ein Bier trinken können, und ich hoffe, dass ich Recht habe. Ich war nicht irre genug.

Abgeschlossen hab ich dennoch, bin dann zurück nach Europa zu den Mittelirren, und dann im letzten Schritt zurück auf Los, wieder nach Deutschland, zu den Profilneurotikern. Sie haben das damals alles verfolgen können, ich war eventuell nicht so offen, da ich ja immer auch ein bisschen vorsichtig sein musste, aber es war wieder genau gleich wie in Job 1: Mittelmäßige (na gut, immerhin) Forschung, viel Eitelkeit, viel Gerangel um vollkommen unwichtige Pöstchen, niemand profiliert sich durch seine Arbeit, sondern über sinnlose Abstimmungsergebnisse. Wer einmal in einem funktionierenden Forschungssystem gearbeitet hat, kann das nie mehr machen.

So. Das war lang. Und eigentlich fehlt jetzt ja noch der Teil, wo ich aus der Wissenschaft aus allen Gründen aussteige und in die Werbung oder so ähnlich gehe. Aber bei näherer Betrachtung möchte ich da nix zu sagen, weil ich ja mittendrin bin. Ich kann mich aber selbst zitieren, vor einigen Jahren, in einem Gespräch mit Frau N.: "Ich bin ja auch aus der Wissenschaft ausgestiegen, weil ich nicht mehr nur mit Irren arbeiten wollte. Die hier sind ja alle genauso irre, aber es fehlt ihnen die geistige Brillianz."

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