Dienstag, 12. Januar 2021
Mother (Tori Amos)
Eine der großen Aufgaben der modernen Frau ist es ja, nicht wie die Mutter zu werden. Ich fand es in meinem Fall viel wichtiger, nicht wie mein Vater zu werden, daher habe ich mich darauf konzentriert. Und wie das dann so ist...

Meine Mutter sitzt gerade in der Küche, ich habe mich "aufgrund wichtiger beruflicher Verpflichtungen" ins Wohnzimmer gesetzt, blogge ein bisschen und gucke dabei angestrengt wie eine Managerin. Da fallen immer alle drauf rein. Meine Mutter ist eigentlich ein sehr guter Mensch, hat aber eine kleine Eigentümlichkeit, die ihr Umfeld in den Wahnsinn treiben kann: Das Wiederholen von Themen, gerne über Jahre. Ach. Jahrzehnte.

2003 sind meine Eltern aus meinem Elternhaus in eine Wohnung gezogen, ländlich, alles schön, ich hätte mir gewünscht, in einer solchen Wohnung zu wohnen im Alter. Vor dem Haus war eine Bus-Endhaltestelle, und dieses Thema haben wir insgesamt 17 Jahre bei jedem sich bietenden Anlass besprochen. Dass dem Busfahrer nachts kalt ist und er darum den Motor laufen lässt, okay, aber man schläft ja doch sehr schlecht mit so einem Bus vor dem Schlafzimmerfenster, und der eine Busfahrer hat eine Affäre, die Dame kommt immer im Opel Corsa zu der 30 minütigen Pause, manchmal macht er dann im Bus das Licht aus. 17 Jahre. Manchmal war das mit dem Bus sehr schlimm, manchmal war es gut, manchmal war es mittel, immer musste aber über den Bus gesprochen werden. In der neuen Wohnung sprechen wir über die Tür zwischen Wohnzimmer und Flur. Immer. Täglich.

Deshalb spreche ich schon wieder über Schule. Ich bin meine Mutter. Vermutlich bin ich an dem Punkt schon lange vorbei, an dem ich noch erklären muss, dass ich es ausgesprochen richtig finde, dass die Schulen zu sind. Gestern fand ich ja auch sehr erfreulich, dass es Distanzunterricht jetzt wirklich gibt, also dass Ona von 8.15 bis 13.30 vor dem Laptop sitzt und dort beschult wird. Von Lehrern. Ich fand das super, Ona fand das super, sein Tag hatte Struktur, ich habe höchstentspannt gearbeitet, er war ja in seinem Zimmer und hatte Schule, ich musst auch nix erklären oder tun. Es war alles sehr gut.

Heute hat die erste Lehrerin beschlossen, dass die Kinder ja voll überfordert sind, wenn sie den ganzen Tag "vor dem Bildschirm" sitzen, also gibt es für Latein jetzt wieder Arbeitsblätter. Ich möchte nicht ins Detail gehen, aber ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Ich bin sehr enttäuscht. Morgen also schon nur noch 2 von 6 Stunden Distanzunterricht, Rest Arbeitsblatt. Wenn demnächst die aktuelle Situation überstanden ist, kann ich allerdings sagen: Ich hatte einen ganz guten Tag im Januar.

Das Projekt der Wiedermenschwerdung läuft dennoch wie auf Schienen. Ich habe Arzttermine vereinbart und erwäge sogar, diese wahrzunehmen, ich arbeite genau das, was ich arbeiten muss, (und dennoch ist irgendwie alles gleich, was mir zu denken gibt, ich aber auch darauf zurückführe, dass die Kund:innen alle ähnlich ausgebrannt sind und genau so prokrastinieren wie ich), schlafen kann ich noch immer nicht vernünfig, aber das wird jetzt gekontert mit viel Waldbaden, das macht ja müde, sagt man.

Der Hund lässt übrigens ausrichten: Der Frühling naht. Heute im Wald deutlich fühlbar, habe ich ja die Sorte Hund, der im Normalfall 100% hört und mitdenkt, heute wurde allerdings über Gebühr Quatsch gemacht, das deutet auf nahenden Frühling hin. Es gab sogar Situationen, in denen ich zweimal böse gucken musste, wer meinen Hund kennt, erschaudert an dieser Stelle. Unsere normale Hunderunde ist 8 Kilometer lang, mit einigen Höhenmetern Unterschied. Ich brauche dafür 2 Stunden (inklusive Ballspielen, Waldbaden und was man so macht als Hund), Ona joggt die Runde normalerweise, ist dann nach 40 Minuten wieder da und kann schneller wieder im Bett rumhängen. Leider haben wir mit dem Hund den gleichen Fehler gemacht wie mit dem Kind: Man kann sie nicht müdespielen, man kann nur Kondition aufbauen. Und wenn man jetzt also so viel Zeit mit so einem gut gelaunten Hund im Wald verbringen muss, dann wäre es mir auch ganz recht, wenn wir jetzt einfach wieder Frühling machen könnten. Wie zu Beginn des letzten Lockdowns. Da haben wir ja den Garten gepflegt. Ach verdammt, Hochbeete gebaut hab ich ja schon.

Ansonsten habe ich die gesamte Haushaltsführung wieder in die Hände des 11Jährigen gegeben, was an Tag 2 noch sehr gut funktioniert. Ich konnte noch abwenden, dass er sich zum Frühstück 6 Kartoffelknödel kocht (getauscht gegen Müsli, enttäuschtes Gesicht in Kauf genommen), ansonsten gab es Rührei zum Mittagessen und Nudeln mit Tomatensoße zum Abendessen. Blaubeerpfannkuchen zum Nachtisch. Ich will nicht hoffen, dass er sein gesamtes Pulver heute schon verschossen hat. Ich befürchte nämlich, ein bisschen Pandemie ist noch.

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Montag, 11. Januar 2021
No sleep till Brooklyn
Ich war ja gestern schon auf gutem Wege, ein Mensch an der Schwelle zur Euphorie zu sein, heute bin ich noch deutlich näher dran. Und das kam so:

Mein Kind hatte um 8.15 Mathe, dann Sport, dann Deutsch, jetzt Bio, gleich Schulschluss, dann kocht es sich selber ein Mittagessen, und dann macht es Hausaufgaben. Ich wiederum sitze vollkommen übermüdet wegen Pandemie-Jetlag in der Küche an der Theke und schreibe Angebote, die direkt freigegeben werden. Viel näher an "die Welt ist okay" bin ich in den letzen 10 Monaten selten gekommen.

Wer austeilt, muss auch lieben können, Sie wissen schon, was ich meine, jedenfalls habe ich seit März ja nie gezögert, meinen Unmut über die eher schleppende Konzeptionsphase für den Distanzunterricht, so wie ich sie in unserem konkreten Fall erlebt habe, zu äußern, und an Tag 1 nach den Coronaferien bin ich bereits komplett besänftigt. Was ich hier im Wohnzimmer höre, finde ich super, alle Lehrer machen einen sortierten Eindruck, es gibt ein System, Ona weiß, was zu tun ist, er meldet sich und macht mit, es gibt einen Video-Stundenplan, alle 45 Minuten kommt er vollkommen enthusiasmiert aus seinem Zimmer gelaufen, um sich einen Tee zu machen oder aufs Klo zu gehen oder beides, und insgesamt kann ich nur sagen: Wenn das jetzt so bleibt (und davon gehe ich aus, auch das Kind kann sich vermutlich nix Schlimmeres vorstellen, als von mir beschult zu werden), ist das ein 1A Distanzunterricht und hat mit Homeschooling sehr wenig zu tun. Ich möchte so weit gehen, zu sagen, dass das für mich jetzt bis zum Abitur so bleiben kann. Also aus meiner Perspektive. Eventuell ist das für die Profilbildung so eines Präpubertären auf Dauer auch nix, aber so ist es erst mal super.

Vielleicht kann ich dann auch demnächst mal wieder besser schlafen. Schlafen ist ja bis 2020 ein Zustand gewesen, den ich auf Knopfdruck einfach herbeiführen konnte. Sei es auf dem Langstreckenflug oder im Club an die Bassbox gekuschelt, schlafen ging immer. Das ist seit einigen Monaten anders, ich könnte vermutlich genau jetzt sehr gut schlafen, das ist aber gesellschaftlich verpönt und auch nicht zuträglich, wenn man seinem Kind gerade versucht beizubringen, dass Längenwachstum sicherlich anstrengend ist, man aber dennoch nicht 20 Stunden am Tag im Bett verbringen kann.

Seit nunmehr mindestens einem halben Jahr schlafe ich also hervorragend ein, wie immer, werde dann kurz darauf wieder wach, drehe mich ein paar Mal um, gucke dann auf Twitter, was die Amis so machen, und dann schlafe ich wieder ein, und dann werde ich wieder wach, etc. Morgens bin ich dann müde und endlich bereit, mehrere Stunden am Stück zu schlafen, aber gut, siehe oben. Heute bin ich statt um 12 um 7.30h aufgestanden, und jetzt wird einfach dejetlagt, so wie "früher". Es gibt ja Leute, die können besser von Osten nach Westen fliegen, ich konnte schon immer besser von Westen nach Osten fliegen. Ich muss einfach zwei, drei Tage nicht dem Bedürfnis, einen Mittagsschlaf zu machen, nachgeben, und schon ist alles wieder gut. Andersrum fiel mir das immer deutlich schwerer, und die 9 Stunden zwischen hier und Kalifornien habe ich mir jedes Mal hart erarbeiten müssen. Unvergessen die Geschichte, als ich mal einen Zwischenstopp in Chicago für eine Konferenz machen musste, um dort dann an Tag 2 nach der Mittagspause in der Lobby einzuschlafen, wachzuwerden, heimlich in den Konferenzraum zu schleichen, wo nur noch vorne direkt vor dem Vortragenden ein Platz leer war, auf den er mich freundlich bat und auf dem ich dann wenige Minuten später leider wieder einschlief und mit dem Kopf auf die Tischplatte fiel. Als mein Doktorvater mir eine Woche später an der Westküste beim Mittagessen erzählte "Jurafsky told me someone keeled over during his talk" konnte ich nur sagen: "Oh, really?"

Aber da war ich noch jung und belastbar, wie wir wissen, ist das ja vorbei. Zudem habe ich durch vermehrte Adrenalinproduktion auch immer sehr viel Extraenergie bekommen, erst durch eine gewisse Flugangst, die dann mit der Zeit einer deutlichen Immigrationsangst wich. Wie so eine Person, die das Capitol gestürmt hat, bin ich nämlich irgendwann auf die TSA N*-F*y List gespült worden, und ja, das ist vielleicht naiv, aber ich mach mal Sternchen in das Wort. 2004 wurde ich erstmals festgesetzt beim Umsteigen in Chicago, dann in Boston, dann direkt in London schon, weil ich naiverweise dachte, ich könne ja mal mit einer amerikanischen Airline fliegen (not), dann in San Francisco, und dann nahm ich mir einen Anwalt, der ein Schreiben an den TSA Ombudsman schickte, dann war kurz alles gut, und dann ging das von vorne los. In meinem Erfahrungshorizont gibt es jetzt Dinge wie strip search (immer gute Wäsche tragen, wenn ich interkontinental reise!), Verhöre mit Lampe im Gesicht wie in einem schlechten Tatort, man darf übrigens *nicht* automatisch einen Anruf tätigen, auch nicht, wenn man nett fragt, Flirten klappt mit dem Immigration Officer auch nicht, usw.

Auf besagter Liste stehen heutzutage rund 100.000 Leute, davon sind vermutlich mehr als die Hälfte False Positives, hell yeah, I'm one. Es gibt verschiedene Tickets in den Olymp der Fernreise, die Katakomben unter dem Flughafen, meins bestand vermutlich aus einem nicht-lateinischen Buchstaben im Namen, der dazu führt, dass transliteriert wird, was meistens schief geht, und dann ist es halt kompliziert. So die Aussage des ACLU Anwalts, der mich damals vertreten hat.

Insgesamt kann ich sagen: Das Leben wird nicht besser dadurch, dass man dort landet (wobei ich nicht weiß, wie mit inländischen Listenleuten verfahren wird. Mit ausländischen ist ein Schritt, den ich mehrfach nur knapp abwenden konnte, dass man mit der nächsten Maschine zurück geht. Und jetzt kommt der Clou: Das ist die nächste Maschine, die auf den Erdteil fliegt, aus dem man kommt. Wenn man also aus Amsterdam einfliegt, fliegt man im schlechtesten Fall zwei Stunden später nach Minsk zurück). Long story short: Alles nur sehr angemessen für Leute, die sich ein Kostüm anziehen und die Demokratie stürzen wollen. Vielleicht kann man mich einfach austauschen.

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Sonntag, 10. Januar 2021
The model
Ich kann es zu diesem Zeitpunkt nicht komplett ausschließen, dass ich bezüglich der Entwicklung der Digitalisierung von Onas Unterreicht heute abend erstmals nicht komplett enttäuscht bin. Okay, ich bin auch nicht begeistert, aber in den letzten 2 Tagen haben sich einige Dinge ereignet, die eine Zeitenwende ankündigen. Ich möchte Sie jetzt auch nicht überfordern, daher überlegen Sie bitte gut, ob Sie den Inhalt verkraften können.

Gestern (an einem Wochenendtag, verbeamtet!!) schickte der Rektor des Gymnasiums eine Mail an alle Eltern, und der Inhalt befand sich nicht in einem offenen Worddokument, nein, auch nicht in einem angehängten PDF, also doch, aber nicht nur. Der Inhalt der Email befand sich im Mailbody. Also da, wo wir durchdigitalisierten Leute Inhalte reintun. Bämm!

Und morgen hat Ona Videounterricht. In echt. Das erste Mal. Ever. Wir sind also jetzt an unserer Schule da angekommen, wo gefühlt jede bayrische Schule im April schon war. Und das finde ich gut.

Auch gut finde ich die Angebote der ARD. Dort gibt es jetzt ein wenig Schulfernsehen, und das finde ich allenfalls besser als alles, was er sonst gucken würde, ich habe nämlich nach wie vor nicht vor, Ona zu homeschoolen, und ja, das ist eine sehr luxuriöse Situation, er ist nämlich alt und klug genug, dass er bislang zumindest komplett zurechtgekommen ist, und das wird auch so bleiben müssen. Alternativ kann er gerne leistungsverweigern, aber das müssen wir ihm ja nicht vor Tag 1 schon sagen. Abgehängt wird er nicht, da mache ich mir wenig Sorgen. Was ein bisschen blöd auskommt ist die Tatsache, dass er eine Woche vor Weihnachten die Klasse gewechselt hat, nun hat er seinen Lernbuddy aus dem ersten Lockdown verloren, aber gut, dann ist das jetzt halt so.

Ich habe natürlich leicht reden. In dem Motzbeitrag, mit dem ich neulich die Blogpause unterbrochen habe und in das Befindlichkeitsbloggen einstieg, hatte ich noch den Verve einer Person, die nicht 10 Monate Pandemie in den Knochen hat. Das ist heute anders. Daher ist mir jetzt einfach alles egal, und in blindem Vertrauen auf mein Kind und seine Lebensbedingungen gucken wir jetzt mal, was dabei rauskommt. Motzen hilft ja nicht. Es ist eine ganz einfache Frage der Priorisierung. Möchte ich, dass 10 Millionen Kinder jeden Morgen durch die Gegend fahren und sich und andere infizieren? Nein. Also muss das anders geregelt werden. Dass das für die Eltern blöd ist: Point taken. Aber (live with it): Pandemie ist halt blöd. Ich weiß nicht, warum ich irgendwas Nichtblödes erwarten sollte. Vielleicht ist wieder die Brigitte schuld. Seit 11 Jahren lache ich ja darüber, dass man "alles haben kann", die tolle Karriere, die glücklichen Kinder, das frische, vitaminreiche, selbstgekochte Essen. Nur jemand, der sehr schlecht in Mathe ist, kann sich das gut vorstellen, und ja, dass meistens die Mütter dann den Handschuh werfen und sich um die Kinder kümmern, ist ein Ungleichgewicht und muss geändert werden. Aber eine:r muss ja. Zwei dicke Karrieren plus selbstbetreute Kinder plus "Zeit für mich in der Wanne" geht nur, wenn man Bundestagsabgeordnete ist und nicht hingeht. Soll es ja geben.

Also ist es jetzt noch mal richtig scheiße. Ich bin bereit. Ona hat mich eben gefragt, ob ich nicht einen kleinen Kurzurlaub machen möchte. Wenn mir alles zu laut, unaufgeräumt und anstrengend wird, mache ich das üblicherweise. Fahre einfach eine Woche alleine weg und komme dann gutgelaunt wieder. Aber naja, Sie können den Satz allein vervollständigen. Ich zähle jetzt runter. Ich zähle runter, bis ich wieder ein normaler Mensch bin. Ich zähle runter, bis ich wieder die Menschen sehen kann, die ich sehen möchte. Ich zähle runter, bis ich wieder Zeit auch mal alleine verbringen kann. So lieb ich mein Kind ja habe. 24 Stunden sind viele Stunden. In einer rbb Doku habe ich heute gelernt, dass im Mausmodell (genau genommen war es das Rattenmodell, aber Mausmodell ist momentan mein absolutes Lieblingswort) gezeigt wurde, dass - wenn Individuen auf engem Raum und ohne feste Aufgabenverteilung eingesperrt sind - Masturbation hervorragend hilft, Aggressionen zu überwinden. Ich muss das jetzt mal zuende denken. In den letzten Tagen habe ich versucht, diverse Aufgaben zu verteilen, da ich aber eher mit Anhängern des regelbefreiten Lebens zusammenlebe, werde ich die Berichterstattung an dieser Stelle abbrechen müssen.

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