Mittwoch, 13. Januar 2021
Creep (kann man nicht oft genug wählen)
So, jetzt habe ich 20 Minuten Zeit, um hier etwas ins Internet zu schreiben, ich habe nämlich Lauch im Ofen. Das klingt wie eine Allegorie, ist aber sehr wörtlich zu verstehen. Mein Ruhepuls ist bei 94, das ist zu hoch, das muss noch weg, aber ich arbeite sehr kontinuierlich daran. Jetzt kann ich das wieder, seit heute Nachmittag trage ich den Pulsmesser wieder, der mir 2017 in Zeiten größter Not die Dinge gezeigt hat, die ich lassen muss, weil sie mich aufregen. So hatte ich zum Beispiel damals einen Kollegen, den ich eigentlich sehr schätzte und mit dem ich auch immer gerne telefonierte, er hatte allerdings so seine Eigenheiten, und auch wenn er zu den Menschen gehörte, die ich mochte, ging mir laut Pulsmesser immer sehr der Puls hoch, wenn ich ihn im Telefondisplay sah. Ich habe mir das zu Herzen genommen und habe ihn immer einfach umgeleitet, damit jemand anderes schon mal hören kann, worum es geht.

So gestalte ich neuerdings mein Leben, heute ist der 13. Januar und ich bin vorsatztechnisch noch voll im Plan. Die Arbeit läuft nach wie vor gut, ich habe mir alle Außenwirkungstermine auf morgen gelegt, dann muss ich mich nur einmal ganz schlimm anstrengen und dann ist schon Freitag. Kind macht brav alles selber und hält sich vornehm im Hintergrund, um niemandem die Frage zu entlocken, wie viele Endgeräte es gerade mit in seinem Zimmer hat, ich ertüchtige mich körperlich ganz brav, bin heute schon bei fast 25.000 Schritten, das Bein hält aber noch, eben war ich im Supermarkt (yay, und ich war sehr liebevoll gekleidet!) und habe mir eine Gesichtsmaske gekauft, und insgesamt mache ich jetzt bis zur postpandemischen Neunormalität nur noch Sachen, die gut für mich sind. Ich mache auch Pläne, das machen übrigens alle drei gerade, und sie sehen sehr ähnlich aus. Ich zum Beispiel werde in Urlaub fahren. Nach Undeloh. Das klingt albern, wird aber super, und ich kann die Fahrt sogar mit einem beruflichen Termin verbinden. Ich wollte vor dem Lockdown gerne nach Undeloh fahren, jetzt fahre ich nach dem Lockdown. Und da werde ich alleine sein. Und das finden alle in diesem Haushalt lebenden Menschen gut. Mann und Kind werden an die Mosel fahren, wahrscheinlich werde ich auch noch mal mit Kind und Hund an die Mosel fahren, insgesamt wird einfach sehr viel rumgefahren, und das ist toll. Wir sitzen quasi abends beim Essen und freuen uns darauf, mal für einen Moment räumlich getrennt zu sein, und das macht es auch schon wieder schön. Die größte Absurdität 2020 war für mich ja Weihnachten, die Zeit, in der Menschen wie ich, die im Normalleben sehr wenig Zeit zuhause verbringen, ganz besinnlich werden, sich dicke Socken anziehen und Zeit "mit den Liebsten zuhause" verbringen. Wenn man bereits 10 Monate Zeit mit den Liebsten zuhause verbracht hat, stellt sich die Besinnlichkeit bei mir nicht so ein. Ich hätte deutlich besser alleine in Undeloh Weihnachten gefeiert und hätte mich ganz bestimmt anschließend auf Zuhause auch wieder gefreut.

Das Konzept des Befindlichkeitsbloggens habe ich mir neulich von einem Bloggerkollegen erklären lassen, und als jemand, der so sozialisiert ist, dass man immer super performt und nie klagt, war das ja eigentlich nix für mich. Ich muss jetzt aber feststellen: Es ist sehr erfrischend, auch mal zu sagen, wenn es gerade nicht so gut geht. Kannte ich nicht. Sehe ich im Internet aber jetzt allerorts, und auch wenn ich wirklich weit davon entfernt bin, mich über das Leid Anderer zu freuen, stimmt es mich meinem eigenen Leid gegenüber ein wenig milde zu sehen, dass auch andere Leute in den Seilen hängen. Wir hängen jetzt ein wenig gemeinsam, hören uns dabei gegenseitig zu, akzeptieren, dass Menschen hin und wieder irrational sind oder sich selbst eine Pause verordnen, die sie dann nicht einhalten, dann werden wir geimpft, und dann wird die Welt wieder besser und ich fahre nach Undeloh. Dann muss ich hier und auf Twitter auch nicht mehr konstant heulen, das wird super, ich freue mich jetzt schon auf das neue, postpandemische Ich. Ich nerve Sie? Naja, das ist dann halt so. Dazu kann ich sagen, dass ich am allermeisten mich selber nerve, und das ist für mich das größere Thema, als wenn ich Sie nerve. Bei Anderen gehe ich ja immer defaultmäßig davon aus, dass ich sie anstrengend finde, an mich selber habe ich hohe Ansprüche. Und das ist, was Corona mit mir macht: Ich muss mich damit abfinden, dass ich doof bin und das Internet super. Gut, dass es einen Impfstoff gibt.

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Dienstag, 12. Januar 2021
Mother (Tori Amos)
Eine der großen Aufgaben der modernen Frau ist es ja, nicht wie die Mutter zu werden. Ich fand es in meinem Fall viel wichtiger, nicht wie mein Vater zu werden, daher habe ich mich darauf konzentriert. Und wie das dann so ist...

Meine Mutter sitzt gerade in der Küche, ich habe mich "aufgrund wichtiger beruflicher Verpflichtungen" ins Wohnzimmer gesetzt, blogge ein bisschen und gucke dabei angestrengt wie eine Managerin. Da fallen immer alle drauf rein. Meine Mutter ist eigentlich ein sehr guter Mensch, hat aber eine kleine Eigentümlichkeit, die ihr Umfeld in den Wahnsinn treiben kann: Das Wiederholen von Themen, gerne über Jahre. Ach. Jahrzehnte.

2003 sind meine Eltern aus meinem Elternhaus in eine Wohnung gezogen, ländlich, alles schön, ich hätte mir gewünscht, in einer solchen Wohnung zu wohnen im Alter. Vor dem Haus war eine Bus-Endhaltestelle, und dieses Thema haben wir insgesamt 17 Jahre bei jedem sich bietenden Anlass besprochen. Dass dem Busfahrer nachts kalt ist und er darum den Motor laufen lässt, okay, aber man schläft ja doch sehr schlecht mit so einem Bus vor dem Schlafzimmerfenster, und der eine Busfahrer hat eine Affäre, die Dame kommt immer im Opel Corsa zu der 30 minütigen Pause, manchmal macht er dann im Bus das Licht aus. 17 Jahre. Manchmal war das mit dem Bus sehr schlimm, manchmal war es gut, manchmal war es mittel, immer musste aber über den Bus gesprochen werden. In der neuen Wohnung sprechen wir über die Tür zwischen Wohnzimmer und Flur. Immer. Täglich.

Deshalb spreche ich schon wieder über Schule. Ich bin meine Mutter. Vermutlich bin ich an dem Punkt schon lange vorbei, an dem ich noch erklären muss, dass ich es ausgesprochen richtig finde, dass die Schulen zu sind. Gestern fand ich ja auch sehr erfreulich, dass es Distanzunterricht jetzt wirklich gibt, also dass Ona von 8.15 bis 13.30 vor dem Laptop sitzt und dort beschult wird. Von Lehrern. Ich fand das super, Ona fand das super, sein Tag hatte Struktur, ich habe höchstentspannt gearbeitet, er war ja in seinem Zimmer und hatte Schule, ich musst auch nix erklären oder tun. Es war alles sehr gut.

Heute hat die erste Lehrerin beschlossen, dass die Kinder ja voll überfordert sind, wenn sie den ganzen Tag "vor dem Bildschirm" sitzen, also gibt es für Latein jetzt wieder Arbeitsblätter. Ich möchte nicht ins Detail gehen, aber ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Ich bin sehr enttäuscht. Morgen also schon nur noch 2 von 6 Stunden Distanzunterricht, Rest Arbeitsblatt. Wenn demnächst die aktuelle Situation überstanden ist, kann ich allerdings sagen: Ich hatte einen ganz guten Tag im Januar.

Das Projekt der Wiedermenschwerdung läuft dennoch wie auf Schienen. Ich habe Arzttermine vereinbart und erwäge sogar, diese wahrzunehmen, ich arbeite genau das, was ich arbeiten muss, (und dennoch ist irgendwie alles gleich, was mir zu denken gibt, ich aber auch darauf zurückführe, dass die Kund:innen alle ähnlich ausgebrannt sind und genau so prokrastinieren wie ich), schlafen kann ich noch immer nicht vernünfig, aber das wird jetzt gekontert mit viel Waldbaden, das macht ja müde, sagt man.

Der Hund lässt übrigens ausrichten: Der Frühling naht. Heute im Wald deutlich fühlbar, habe ich ja die Sorte Hund, der im Normalfall 100% hört und mitdenkt, heute wurde allerdings über Gebühr Quatsch gemacht, das deutet auf nahenden Frühling hin. Es gab sogar Situationen, in denen ich zweimal böse gucken musste, wer meinen Hund kennt, erschaudert an dieser Stelle. Unsere normale Hunderunde ist 8 Kilometer lang, mit einigen Höhenmetern Unterschied. Ich brauche dafür 2 Stunden (inklusive Ballspielen, Waldbaden und was man so macht als Hund), Ona joggt die Runde normalerweise, ist dann nach 40 Minuten wieder da und kann schneller wieder im Bett rumhängen. Leider haben wir mit dem Hund den gleichen Fehler gemacht wie mit dem Kind: Man kann sie nicht müdespielen, man kann nur Kondition aufbauen. Und wenn man jetzt also so viel Zeit mit so einem gut gelaunten Hund im Wald verbringen muss, dann wäre es mir auch ganz recht, wenn wir jetzt einfach wieder Frühling machen könnten. Wie zu Beginn des letzten Lockdowns. Da haben wir ja den Garten gepflegt. Ach verdammt, Hochbeete gebaut hab ich ja schon.

Ansonsten habe ich die gesamte Haushaltsführung wieder in die Hände des 11Jährigen gegeben, was an Tag 2 noch sehr gut funktioniert. Ich konnte noch abwenden, dass er sich zum Frühstück 6 Kartoffelknödel kocht (getauscht gegen Müsli, enttäuschtes Gesicht in Kauf genommen), ansonsten gab es Rührei zum Mittagessen und Nudeln mit Tomatensoße zum Abendessen. Blaubeerpfannkuchen zum Nachtisch. Ich will nicht hoffen, dass er sein gesamtes Pulver heute schon verschossen hat. Ich befürchte nämlich, ein bisschen Pandemie ist noch.

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Montag, 11. Januar 2021
No sleep till Brooklyn
Ich war ja gestern schon auf gutem Wege, ein Mensch an der Schwelle zur Euphorie zu sein, heute bin ich noch deutlich näher dran. Und das kam so:

Mein Kind hatte um 8.15 Mathe, dann Sport, dann Deutsch, jetzt Bio, gleich Schulschluss, dann kocht es sich selber ein Mittagessen, und dann macht es Hausaufgaben. Ich wiederum sitze vollkommen übermüdet wegen Pandemie-Jetlag in der Küche an der Theke und schreibe Angebote, die direkt freigegeben werden. Viel näher an "die Welt ist okay" bin ich in den letzen 10 Monaten selten gekommen.

Wer austeilt, muss auch lieben können, Sie wissen schon, was ich meine, jedenfalls habe ich seit März ja nie gezögert, meinen Unmut über die eher schleppende Konzeptionsphase für den Distanzunterricht, so wie ich sie in unserem konkreten Fall erlebt habe, zu äußern, und an Tag 1 nach den Coronaferien bin ich bereits komplett besänftigt. Was ich hier im Wohnzimmer höre, finde ich super, alle Lehrer machen einen sortierten Eindruck, es gibt ein System, Ona weiß, was zu tun ist, er meldet sich und macht mit, es gibt einen Video-Stundenplan, alle 45 Minuten kommt er vollkommen enthusiasmiert aus seinem Zimmer gelaufen, um sich einen Tee zu machen oder aufs Klo zu gehen oder beides, und insgesamt kann ich nur sagen: Wenn das jetzt so bleibt (und davon gehe ich aus, auch das Kind kann sich vermutlich nix Schlimmeres vorstellen, als von mir beschult zu werden), ist das ein 1A Distanzunterricht und hat mit Homeschooling sehr wenig zu tun. Ich möchte so weit gehen, zu sagen, dass das für mich jetzt bis zum Abitur so bleiben kann. Also aus meiner Perspektive. Eventuell ist das für die Profilbildung so eines Präpubertären auf Dauer auch nix, aber so ist es erst mal super.

Vielleicht kann ich dann auch demnächst mal wieder besser schlafen. Schlafen ist ja bis 2020 ein Zustand gewesen, den ich auf Knopfdruck einfach herbeiführen konnte. Sei es auf dem Langstreckenflug oder im Club an die Bassbox gekuschelt, schlafen ging immer. Das ist seit einigen Monaten anders, ich könnte vermutlich genau jetzt sehr gut schlafen, das ist aber gesellschaftlich verpönt und auch nicht zuträglich, wenn man seinem Kind gerade versucht beizubringen, dass Längenwachstum sicherlich anstrengend ist, man aber dennoch nicht 20 Stunden am Tag im Bett verbringen kann.

Seit nunmehr mindestens einem halben Jahr schlafe ich also hervorragend ein, wie immer, werde dann kurz darauf wieder wach, drehe mich ein paar Mal um, gucke dann auf Twitter, was die Amis so machen, und dann schlafe ich wieder ein, und dann werde ich wieder wach, etc. Morgens bin ich dann müde und endlich bereit, mehrere Stunden am Stück zu schlafen, aber gut, siehe oben. Heute bin ich statt um 12 um 7.30h aufgestanden, und jetzt wird einfach dejetlagt, so wie "früher". Es gibt ja Leute, die können besser von Osten nach Westen fliegen, ich konnte schon immer besser von Westen nach Osten fliegen. Ich muss einfach zwei, drei Tage nicht dem Bedürfnis, einen Mittagsschlaf zu machen, nachgeben, und schon ist alles wieder gut. Andersrum fiel mir das immer deutlich schwerer, und die 9 Stunden zwischen hier und Kalifornien habe ich mir jedes Mal hart erarbeiten müssen. Unvergessen die Geschichte, als ich mal einen Zwischenstopp in Chicago für eine Konferenz machen musste, um dort dann an Tag 2 nach der Mittagspause in der Lobby einzuschlafen, wachzuwerden, heimlich in den Konferenzraum zu schleichen, wo nur noch vorne direkt vor dem Vortragenden ein Platz leer war, auf den er mich freundlich bat und auf dem ich dann wenige Minuten später leider wieder einschlief und mit dem Kopf auf die Tischplatte fiel. Als mein Doktorvater mir eine Woche später an der Westküste beim Mittagessen erzählte "Jurafsky told me someone keeled over during his talk" konnte ich nur sagen: "Oh, really?"

Aber da war ich noch jung und belastbar, wie wir wissen, ist das ja vorbei. Zudem habe ich durch vermehrte Adrenalinproduktion auch immer sehr viel Extraenergie bekommen, erst durch eine gewisse Flugangst, die dann mit der Zeit einer deutlichen Immigrationsangst wich. Wie so eine Person, die das Capitol gestürmt hat, bin ich nämlich irgendwann auf die TSA N*-F*y List gespült worden, und ja, das ist vielleicht naiv, aber ich mach mal Sternchen in das Wort. 2004 wurde ich erstmals festgesetzt beim Umsteigen in Chicago, dann in Boston, dann direkt in London schon, weil ich naiverweise dachte, ich könne ja mal mit einer amerikanischen Airline fliegen (not), dann in San Francisco, und dann nahm ich mir einen Anwalt, der ein Schreiben an den TSA Ombudsman schickte, dann war kurz alles gut, und dann ging das von vorne los. In meinem Erfahrungshorizont gibt es jetzt Dinge wie strip search (immer gute Wäsche tragen, wenn ich interkontinental reise!), Verhöre mit Lampe im Gesicht wie in einem schlechten Tatort, man darf übrigens *nicht* automatisch einen Anruf tätigen, auch nicht, wenn man nett fragt, Flirten klappt mit dem Immigration Officer auch nicht, usw.

Auf besagter Liste stehen heutzutage rund 100.000 Leute, davon sind vermutlich mehr als die Hälfte False Positives, hell yeah, I'm one. Es gibt verschiedene Tickets in den Olymp der Fernreise, die Katakomben unter dem Flughafen, meins bestand vermutlich aus einem nicht-lateinischen Buchstaben im Namen, der dazu führt, dass transliteriert wird, was meistens schief geht, und dann ist es halt kompliziert. So die Aussage des ACLU Anwalts, der mich damals vertreten hat.

Insgesamt kann ich sagen: Das Leben wird nicht besser dadurch, dass man dort landet (wobei ich nicht weiß, wie mit inländischen Listenleuten verfahren wird. Mit ausländischen ist ein Schritt, den ich mehrfach nur knapp abwenden konnte, dass man mit der nächsten Maschine zurück geht. Und jetzt kommt der Clou: Das ist die nächste Maschine, die auf den Erdteil fliegt, aus dem man kommt. Wenn man also aus Amsterdam einfliegt, fliegt man im schlechtesten Fall zwei Stunden später nach Minsk zurück). Long story short: Alles nur sehr angemessen für Leute, die sich ein Kostüm anziehen und die Demokratie stürzen wollen. Vielleicht kann man mich einfach austauschen.

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