Dienstag, 2. November 2021
Prognose
Ein Termin wurde verschoben, und ich habe ein wenig Zeit gewonnen, also kann ich doch noch Punkt 2 erläutern, der dazu führte, dass ich heute nicht gut geschlafen habe. Es ist nämlich so, dass ich gestern vormittag nach dem Ausschlafen, Aufstehen und Wachwerden dann wieder eingeschlafen bin, und deshalb hatte ich einfach zu viel Schlaf. Das passiert selten bis nie, aber es war ja ein Feiertag in NRW, und den galt es zu nutzen. Ich schlief also ein, dabei lief irgendwas auf YouTube, und als ich wieder wach wurde, war ich scheinbar in der Zeit rückwärts gegangen und hörte aus dem mobilen Endgerät eine sehr angeregte Gesprächsrunde von vier Menschen, die ich schätze, nämlich Tilo Jung, Hans Jessen, die besonders geschätzte Ulrike Hermann von der taz und Albrecht von Lucke. Das Gespräch stammt aus dem Januar 2021 und beinhaltet eine Menge Wahlprognostik. Wenn man am 1. November wach wird und das hört, ist es sehr lustig, da exakt gar keine einzige Prognose dieser durchaus klugen und gut informierten Menschen so eingetroffen ist, darunter auch eine ganze Reihe von Prognosen, die als komplett alternativlos von allen vier Diskutanten angesehen wurden. Ein sehr häufig gesagter Satz ist: "Wir alle wissen, dass Schwarz-Grün kommt." Alle nicken. Die SPD weiß, dass Schwarz-Grün kommt, die Grünen wissen, dass Schwarz-Grün kommt, die Union weiß, dass Schwarz-Grün kommt, alle wissen, dass Schwarz-Grün kommt und dass das nicht mehr abwendbar ist. Ups, nicht gekommen. Alle wissen auch, dass die SPD bis auf Weiteres unter ferner liefen spielt, und dass es nur noch zu verhindern gilt, dass die Partei komplett zerfällt. Ups. Scholz wird Kanzler. Alle wissen zudem, dass Söder der Kandidat der Union wird, weil Laschet das ja gar nicht kann. Ups. Stimmt, Treffer, Laschet kann das nicht, aber das hat ja nun auch niemanden davon abgehalten, ihn aufzustellen. Interessant, interessant, und wir können hier viel lernen, nämlich unter anderem, dass innerhalb eines halben Jahres alles sich so drehen kann, dass die Welt einfach komplett neu ist. Da braucht es nicht mal eine Pandemie für. Dass die Grünen ins Kanzleramt einziehen, hat auch im Januar niemand gesehen, nicht einmal, wenn vielleicht noch einmal so ein richtig dürrer Sommer kommt, der die Deutschen mit dem Klimawandel konfrontiert. Ich möchte erinnern, dass wir exakt das Gegenteil eines dürren Sommers hatten, ganze Teile Deutschlands sind einfach final abgesoffen, und ups. Niemand, der das politisch hätte nutzen können, konnte davon profitieren, auch wenn es pietätlos klingt, hier von Profit zu sprechen.

Inspiriert von dieser Diskussion, die in sich so stimmig und nachvollziehbar klang, die aber 9 Monate später in allen Punkten widerlegt ist, hob ich gestern abend im kleinen Kreis zu einem Monolog an, prognostizierte auch mal was, wovon ich denke, dass es stimmig und nachvollziehbar klingt, und wettete um eine Flasche Veuve Clicquot demi-sec, der mich ja neulich bei Frau N so überzeugt hat. Einzulösen 2029. Und das prognostiziere ich:

Der Linksrutsch ist ja ausgeblieben, und jetzt wird eine Ampel zusammengezimmert, die der Bevölkerung ja bereits im Vorfeld in einer Reihe von Social Media Beiträgen als der große Durchbruch in die Neuzeit verkauft wird. Ich prognostiziere, dass im Laufe der nächsten vier Jahre hier alle nur verlieren können, alle bis auf einen, nämlich Christian Lindner. Olaf Scholz, dessen geheime Superkraft ja nicht Strahlkraft ist, sondern, dass man ihn einfach permanent vergisst und er sich deshalb sogar größte Wirtschaftsskandale und den Einsatz von Brechmittel erlauben kann, ohne dass jemand sich das merkt, wird genau so blass bleiben, wie er ist, für nichts stehen, nichts gestalten, nichts verändern und am Ende einfach in die Geschichte eingehen als die Lücke zwischen Merkel und Söder. Ja genau. Das ist nämlich meine Prognose für 2025. Die Ampel hat jetzt vier Jahre, um die Bürger*innen vollkommen zu enttäuschen, und selbst ich als bekennendes Habeck-Fangirl glaube nicht, dass SPD und Grüne in der kommenden Legislaturperiode den Eindruck erwecken können, dass sie ein Land regieren. Zumindest nicht so, wie die Erwartung, die sie schon in der Zeit der Sondierungen geweckt haben, es erfordert. Unbeschadet wird Christian Lindner die vier Jahre überstehen, wenn er nicht irgendwann mit seinem Porsche auf dem Weg zur Rehkitzjagd in eine Kindergartengruppe rauscht. Er hat nämlich die Gabe, kompetent zu wirken, und selbst, wenn er manchmal den Unterschied zwischen brutto und netto nicht kennt, reicht sein Selbstvertrauen ja für 80 Mio Deutsche aus, da braucht es kein Vertrauen mehr von anderer Seite. Er wird also pathetische Reden halten, wird sich, wann immer möglich, von Rot/Grün distanzieren, um dann im Wahlkampf 2025 aufzulaufen mit der Geschichte, dass halt doch nicht jeder Realpolitik kann, und er hätte ja auch 2021 immer für Jamaica plädiert, die Ampel sein ein Experiment gewesen, das leider gescheitert sei. Enter Söder. Der hat 2023 die Wahl in Bayern mehr schlecht als recht gewonnen und drückt sich 2025 mit der Geschichte "Ihr habt ja gesehen, was ihr 2021 davon hattet" als Kanzlerkandidat der Union durch. Das spielt dann auch Lindner gut in die Karten, der kann nämlich - inzwischen haben ja alle die Männerfreundschaft Lindner/Laschet vergessen - auf diesen Zug mit aufspringen und mit den Deutschen vom Kanzler der Herzen träumen. Mit ihm als Finanzminister. Weil die SPD und die Grünen einfach nur noch abgewählt werden sollen, wird Söder bei der Bundestagswahl 2025 ein Ergebnis einfahren, das so gut ist, dass er mit der FDP zusammen regieren kann, und dann ist wieder vier Jahre Mist. In meinem Szenario kommen übrigens ausschließlich Männer in tragenden Rollen vor, was nicht zuletzt daran liegt, dass nach 16 Jahren Merkel-Kanzlerschaft die Beweislast umgekehrt ist und niemand ernsthaft fordern könnte, man bräuchte auch mal eine Frau, zudem ja das zweithöchste Amt im Staat mit Bärbel Bas und einer Riege von Vertreterinnen auch in Frauenhand ist.

Zwischen 2025 und 2029 möchte ich mir gar nicht ausmalen, wie es hier so wird im Land, aber ich prognostiziere, dass am Ende dieser Legislaturperiode abschließend demonstriert ist, dass die Aufgaben unserer Zeit mit einer neoliberal-rechtslastigen Regierung nicht gelöst werden können, die Menschen wachen auf, entscheiden neu, und weil die SPD halt die SPD ist, hat dort auch kaum jemand die Zeit genutzt, den nächsten Wahlkampf vernünftig vorzubereiten, und dann kommt der, für den es ja sogar schon ein Lied gibt, und 2029 geht die Union gemeinsam mit der FDP in die Opposition, der neue Kanzler heißt Kevin, und er regiert mit den Grünen, die bis dahin eventuell etwas professioneller aufgestellt sind, eventuell auch nicht, das traue selbst ich mich nicht zu prognostizieren, und dem, was der Linken nachfolgt. Und dann bekomme ich eine Flasche Veuve Clicquot. Und wenn das alles nicht so kommt, ist das für mich auch total okay.

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Just a dress
Ich bin sehr müde, da ich die halbe Nacht wachgelegen habe, und zwar aus zwei Gründen.

1) Ich habe in meinem Kopf etwa 20 Jahre Kleidungshistorie abgerufen, um mich alle 30 Minuten einmal zusammenzukrümmen und zu denken "NEIN!!". Es war ja so, dass Motten mein absolutes Premiumkleid aufgegessen hatten. In Teilen. Es war ein wunderschönes Kleid einer sehr teuren Marke, es war hübsch, fühlte sich hervorragend an (Wolle und Kaschmir, guten Appetit) und konnte etwas, was nur ganz wenige Strickkleider können: Sogar an mir hervorragend aussehen. Dabei war es so bequem, dass es einer Belohnung glich, es tragen zu dürfen.

Nun räume ich ja den Kleiderschrank in meinem Zimmer regelmäßig von Sommer auf Winter und zurück, und das bedeutet auch, dass Winterkleider in der Rotation dann kurz andernorts zwischengelagert werden müssen. Einleitend, ja, auch in Leseminute 40 bin ich noch in der Einleitung, sei gesagt, dass ich viele Jahre meines Lebens ganz oft Kleider getragen hatte, dann einige Jahre gar nicht, dann, und das sind vielleicht die letzten 3, wieder hin und wieder. Für hin und wieder hatte ich eine Reihe von recht hochwertigen Kleidern gekauft. Aus der Zeit, in der ich ganz oft Kleider getragen hatte, gab es noch eine nicht unwesentliche Anzahl an Exemplaren, die ich teils als Erinnerung, teils aus Entscheidungsschwäche, und teils, weil ich mir sicher war, dass noch einmal eine Zeit in meinem Leben kommen wird, in der ich da wieder reinpasse, behalten hatte.

Nun ist meine Wohnsituation ja mehrteilig, bestehend aus Wohnung, Gartenhaus und Einliegerruine, so muss man es ja neuerdings formulieren. In allen drei Einheiten stehen bzw. standen Kleiderschränke, die der folgenden Logik unterliegen: 1) In meinem Schlafzimmer steht ein Schrank, in dem die jahreszeitliche Kleidung, aufbewahrt ist, ein kleiner Teil in 2,40 Höhe ist reserviert für gefaltete Wäsche aus der nächsten Jahreszeit. Im Winter liegen dort eine Reihe von T-Shirts und anderen sommerlichen Dingen, im Sommer liegen dort die Wollpullover. 2) Im Gartenhaus befinden sich Dinge wie Abendgarderobe und jahreszeitlich unpassende Kleider. Theoretisch auch Wintermäntel im Sommer, aber wir wollen wem auch immer danken, dass ich das diesen Sommer vergessen hatte. Hier also befinden sich im Sommer alle Kleider aus Wolle und mit langen Ärmeln. 3) Im Kellerschrank befinden sich Dinge, die man so auf den ersten Blick nicht braucht. Hochzeitskleider zum Beispiel. Alles, was man lange vorm Kind gekauft hatte und wo ich beim besten Willen nicht reinpassen würde, sowie einzelne Kleider, die man heute eigentlich nie mehr tragen würde, die aber auch keinesfalls weggegeben werden können. Im Keller fressen sie kein Brot.

Wir halten fest: Schlafzimmer, Gartenhaus, Keller, Schlafzimmer: Was ich heute trage, Gartenhaus: Was ich eventuell in 6 Monaten trage, Keller: Was ich eventuell nie mehr trage.

Dann kam die Sache mit dem vollgelaufenen Keller, und ich kürze einfach ab: Das Drama war ja doch recht groß, wir haben anschließend, da alles wegschimmelte, bis auf die Grundmauern alles rausgerissen. Inklusive der Schränke. Und da ich ahnte, dass mir das an der ein oder anderen Stelle sehr weh tun wird, ich aber überhaupt gar keine Lust hatte, mich von den zu entsorgenden Dingen persönlich zu verabschieden, das hätte ich nämlich schmerzlich gefunden, gab ich Herrn H einen Persilschein, der lautete: Alles, was im Keller ist, ist dort, weil ich dafür in meinem heutigen Leben ja gar keinen Platz habe, also kann das auch weg. Der Keller ist leer.

Dann kam die Sache mit dem Kleid im Gartenhaus, welches ich zu einem Anlass tragen wollte, es ist ja bereits Winter, ich holte es aus dem Schrank und es hatte Löcher. Mottenlöcher. Ich setzte mich in den Sessel und litt still, naja, laut, aber das sagt man so ja nicht, fand glücklicherweise meinen Kaschmirmantel im Flur und nicht im Gartenhaus, wo er hingehört hätte, dann wartete ich einige Tage und bat dann Herrn H., ob er mal in dem Schrank gucken könnte, ob die anderen Dinge auch zerfressen sind. Das tat er, und nein, der Rest sei intakt. So richtig wollte ich das nicht glauben, also wartete ich zwei weitere Tage ab und ging dann selber gucken.

Ich kürze ab. Aus irgendeinem intrapandemisch vielleicht nachvollziehbaren, dennoch vergessenen Grund, habe ich wohl an irgendeiner Stelle in den letzten 2 Jahren fast alle Kleider und Jacken/Mäntel aus dem Gartenhaus in den Keller gebracht. Jacken und Mäntel alle. Nicht fast alle. Kleider hingen dort noch 2. Die sind aber schlecht. Der ganze Rest ist weg. Und jetzt erinnern Sie sich kurz an den Persilschein, mit dem Herr H. einfach unsortiert alles wegwerfen durfte, was sich im Kellerschrank befand, weil das ja nur die alten Erinnerungen aus den Nullerjahren sind. Und das ist Grund 1, warum ich heute nicht schlafen konnte: Ich lag im Bett und erinnerte mich an die Dinge, die in dem Schrank waren, und immer, wenn mir etwas besonders Gutes einfiel, war ich traurig. Und weil der erste Grund jetzt schon so länglich war, muss ich erst mal was anderes machen. Arbeiten zum Beispiel. Früher oder später muss ich neue Anziehsachen kaufen.

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Sonntag, 31. Oktober 2021
Elke
So. Ich hab's getan, ich war auf einem Zweiklang-Abend (Lesung und Klavier) mit Elke Heidenreich, der alten weißen Frau, und ihrem Lebensgefährten Marc Aurel Floros am Klavier. Sie las aus "Männer in Kamelhaarmänteln", ihrem Buch über Kleidung und was diese für uns tut, und ich war äußerst gut unterhalten. Jawohl.

Eigentlich war ich ob des Buches ja beleidigt, zum dritten Mal in meinem Leben. Ich habe im Alter von sechs Jahren beschlossen, ein Buch zu schreiben. Soviel war klar. Nach einer nicht so kurzen Episode im Journalismus habe ich dann auch tatsächlich ein Buch geschrieben, das möchte aber außer 30 Leuten auf der Welt niemand lesen, wie das mit Doktorarbeiten in Nerdfächern so ist. Jetzt schreibe ich diesen Blog und belanglose Dinge auf Twitter, und der Plan, mal ein echtes Buch zu schreiben, ist vertagt. Vielleicht mit 70 auf der Chaiselongue.

Dummerweise ist es so, dass ich nämlich nichts wirklich zu sagen habe. Meine Memoiren wären vermutlich in Teilen nicht uninteressant, ich finde mein Leben bislang höchst spannend und an vielen Stellen auch mit unvorhergesehenen Brüchen gespickt, da ich aber vollkommen irrelevant bin, kommt der Punkt, an dem ich meine Memoiren schreibe, eher nicht mehr. All das in einem Roman zu verarbeiten, ist mir deutlich zu anstrengend, ich vermute auch, dass jeder Verlag ihn wegen völliger Absurdität und überfrachteter Handlungsstränge ablehnen würde. Über Themen möchte ich nichts schreiben. In einem hochtheoretischen Gebiet werde ich manchmal gefragt, Aufsätze in Branchenmedien beizutragen, und das fühlt sich jedes Mal an wie Doktorarbeit. Ich bewundere ja immer die Leute, die Dr. Dr. Selbstgeschrieben sind, also nicht einen gemacht, einen h.c. Ich hätte niemals freiwillig eine zweite Doktorarbeit schreiben wollen, dieser Wunsch ist mir sehr fremd. Ich möchte nette Sachen schreiben, am besten auf Gebieten, in denen ich eine Meinung habe, und da ist aber leider auch schon alles, was ich hätte schreiben wollen, erledigt.

In jungen Jahren habe ich wöchentlich eine Glosse für eine große Tageszeitung geschrieben, da der Chefredakteur befand, ich hätte eine flotte Schreibe. Ich habe da einfach irgendwelche Alltagsbeobachtungen in kleine Texte gepresst, wenn ich die heute lesen, bin ich mal erheitert, mal peinlich berührt, zu viele Adjektive. Aber man wird ja klüger. Als ich dann den ersten Kolumnenband von Max Goldt las, war ich beleidigt. Ich glaube, es war "Mind Boggling - Evening Post". Ich weiß es nicht mehr genau. Ich habe dann sehr schnell alles gelesen, und mit jedem Band rückte meine Idee, ein Buch mit kurzen Texten über Alltagsbeobachtungen zu schreiben, in weitere Ferne, es war alles gesagt. Teilweise sogar in den genau gleichen Worten, das Wort "Klofußumpuschelung" habe ich schon benutzt, bevor Max Goldt es aufschrieb, und wie so oft im Leben, liebe ich ihn dafür, dass er so toll ist, wenngleich das dazu führt, dass ich einfach weniger toll bin, ich kann das Wort Klofußumpuschelung ja nur noch zitieren. Chapeau.

Dann hatte ich die nächste Idee. Ich habe zu einer Reihe von Liedern eine nahezu körperliche Beziehung, jede davon hat eine eigene, teils komplexe Geschichte. An eine wurde ich gestern kurz erinnert, ich habe sie aber schon öfter hier erwähnt, und sie war Auslöser für die Idee, sie entstand 2001. Da guckte ich nämlich das Tribute to Heroes Konzert in New York, Ende September, es war sehr ergreifend, ich war sehr ergriffen. Ich weiß aus dem Stand keine Situation, die mich mehr ergriffen hat bislang, und ich erinnere mich, dass ich vollkommen überwältigt davon war, dass die Musiker*innen in all der Ergriffenheit überhaupt spielen konnten. Ich habe damals noch selber regelmäßig live Musik gemacht, und war mir nicht sicher, ob ich das hingekriegt hätte. Als Sheryl Crow - ich stehe nicht unter Verdacht, ein riesiger Sheryl Crow Fan zu sein - Safe and Sound sang, ganz alleine am Klavier mit ein paar Kerzen, musste ich mich in Münster am Fernseher übergeben, so sehr schlug mir das auf den Magen. Ich höre das Lied auch heute noch hin und wieder, und ich muss mich zwar nicht mehr übergeben, aber es macht viel in mir frei. Auch 20 Jahre später noch. Und da gibt es eine ganze Reihe von. Lieder, auf die ich völlig übertrieben reagiere. Das Sex Lied. Das Autobahn-Mitgröhl Lied. Das Tanzlied. Das Liebeskummerlied. Ich kann vollkommen glücklich verliebt sein, alles ist rosa, wenn ich dann Song for Whoever von The Beautiful South höre, bin ich sofort der herzgebrochenste Mensch der Welt. Es ist verrückt. All diese Lieder stammen übrigens aus der Zeit bis Ende des Studiums, danach habe ich nichts mehr dazugewonnen. (Kurzer Exkurs zu der heutigen Veranstaltung: Es gibt auch ein Lied, zu dem ich SOFORT laut singen möchte, am liebsten alleine, und das ist Putting on the Ritz, vielleicht das Lied auf der Welt, das ich am liebsten singe, das wurde heute von Flores gespielt, und es kostete mich alle Kraft, nicht mitten im Saal aufzustehen und zu singen. Ich habe es aber geschafft.)

Kurz nach 9/11 wuchs also langsam die Idee, ein Buch über eine Auswahl von Liedern zu schreiben, und dann kam 2002 Nick Hornby mit 31 Songs, und ja, ich war *sehr* beleidigt. Das war das Buch, das ich geschrieben hätte, sicherlich mit 31 anderen Songs, wobei "Your love is the place where I come from" von Teenage Fanclub schon wirklich sehr schön ist. Ich habe mich aber schnell damit abgefunden, da das Resultat Hornby so gut gelungen war, und ich benutzte es doch noch einmal, nämlich für eine Trennung durch Landwechsel. Als ich beschloss, Deutschland zu verlassen, ließ ich einen Mann zurück, und zum Abschied machte ich ihm ein Mixed Tape mit den meines Erachtens besten Stücken des Buches und dem von mir im Institutstonstudio eingelesenen Text. Ich habe keine Kopie davon. Ich Idiotin. (Wobei ich mir sicher bin, dass er es noch hat. Ich sehe ihn bald. Ich werde ihn um ein Exemplar bitten, das war viel Arbeit.)

Das dritte Thema, das ich mir noch hätte vorstellen können, ist Mode, beziehungsweise mein Verhältnis zu einzelnen Kleidungsstücken, und wie man so auf das Leben schaut, wenn all die Designer, die man wirklich gut findet, nur Dinge schneidern, wo man selber aufgrund von Comicbrüsten oder Nachkindpfunden niemals reinpassen würde. Und dann schrieb Elke Heidenreich dieses Buch, und ja, sie wissen schon. Beleidigt. Ich hatte es vor der Veranstaltung auch nicht gelesen, war aber so enthusiasmiert, dass ich es habe kaufen müssen. Und wieder dachte ich an vielen Stellen: Ja, so ist das. Sie erwähnte sogar zwei Dinge, die mich sehr abholten: Eine der Designerinnen, deren Kleidung ich wirklich, wirklich großartig finde, ist Jil Sander. Die entwirft wunderschöne Dinge für sehr große sehr androgyne Frauen. Nicht mich. In den Jahren, in denen ich (androgyn war ich nie) noch eine Chance gehabt hätte, reinzupassen, konnte ich mir die Sachen nicht leisten, und jetzt, naja, Themenwechsel. Sie beschrieb jedenfalls eine Szene, in der sie Jil Sander in einer Talkshow zu Gast hatte, und die brachte ihr einen Hosenanzug mit, extra für Heidenreich entworfen, Heidenreich zog den an, sah unmöglich darin aus, und Sander sagte: "Ziehen Sie den bitte wieder aus, das ist nix" oder so ähnlich. Das wäre ich gewesen. Ich fand mich auch sehr wieder in der Geschichte von dem Kleid, das sie nur kaufte, weil es so wunderschön war, ohne jede Chance, jemals da reinzupassen. Ist mir nicht unbekannt. Laut gelacht habe ich bei der Geschichte Onkidonki, wo ihre Freundin den Kleiderschrank ihres Mannes nach der Marie Kondo Methode aufräumt. Nicht alles sparkte joy, insbesondere nicht bei ihrem Mann, der anschließend keine Kleidung mehr hatte. Ich hätte dieses Buch gerne geschrieben, zu spät.

Unerwartet erstaunt war ich, als sie eine Szene las, in der eine Frau einen Mann im Cafe verführen möchte, auf die Toilette geht und sich mit meinem Parfum einsprüht. Ja, sie hören richtig. Allerdings nicht das eine, sondern das andere. Ich habe ja zwei Nischendüfte, die kein Schwein kennt und man auch nirgendwo kriegt, und das zweite, das ich eigentlich eher im romantischen Kontext verorte, trug ich heute, da mir auffiel, dass ich immer nur das aus der florentinischen Apotheke trage und das andere vermutlich irgendwann kippt und wie Tosca riecht. Also trug ich das heute, und bääääm, erwähnt Heidenreich das auf der Bühne. Nach der Lesung gab es noch eine kleine Schmusestunde im Foyer, ich ließ ein Buch signieren und erwähnte, dass ich zufällig das Parfum trage. "Wo auch sonst, wenn nicht in Düsseldorf, sitzt tatsächlich jemand im Publikum, der das trägt", war die leicht schmerzende, aber sehr lustig gemeinte Antwort, und dann plauderten wir über das Parfum. Sie hatte es ihrer Freundin zum Geburtstag geschenkt, fand es für 50 ml eher war für einen runden Geburtstag, wollte dann an mir riechen, tat das und fand es fantastisch. Jawohl. (Übrigens auch Patchouli, muss man mögen. Elke mag's.) Ich revanchierte mich für den unterhaltsamen Abend dann damit, dass ich vorführte, wie man es auftragen muss, um nicht nach Puff zu riechen (ich habe das schon mal beschrieben, ich wurde einst instruiert in der kleinen Parfumerie, die das verkauft, und zwar vom 200 Jahre alten Inhaber persönlich: Man duscht duftfrei (ich dusche mit Patchouliseife, das geht auch), danach stellt man sich nackt ins Bad, sprüht zweimal senkrecht nach oben in die Luft und bewegt sich dann in der nach unten fallende Wolke expressiv). Ich tanzte das vor, wir lachten, ich bedankte mich, sie bedankte sich, und dann war der Abend um. Wir haben nicht über Gendern oder Sarah Lee-Heinrich gesprochen. Aus allen Gründen.

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Freitag, 29. Oktober 2021
Kevin
Die Frau Mama hat heute den letzten großen Schritt raus aus ihrem alten Leben vollzogen und war bei unserem Hausarzt, der direkt gegenüber von mir und damit schräg gegenüber von ihr ist. Und wie das so ist, wenn man mit 81 zum Arzt geht, kommt man voll durchimmunisiert wieder raus. COVID, Grippe, meine Mutter wird uns alle überleben. Ich finde das sehr beruhigend, wo doch meine All Time Lieblingspolitikerin heute die Maskenpflicht aufgehoben hat. In meinem neuen, rein spaßbasierten Leben rege ich mich darüber natürlich nicht auf, sondern freue mich einfach, dass das vulnerabelste Mitglied meiner Familie soweit erst mal gerettet ist, und bis ich beginne, mir über das zweitvulnerabelste Mitglied, das Schulkind selbst, wieder Sorgen zu machen, ist bestimmt sowieso wieder irgendetwas geändert.

Ansonsten warte ich mehr oder weniger gespannt auf die Ergebnisse der Ampelkoalitionsverhandlungen, wobei mein Wille, mich nicht mehr aufzuregen, soeben noch ausreicht, nicht jeden Satz von Leuten, die es einen Verrat an der Demokratie finden, dass jetzt nicht mehr aus geschlossenen Sitzungen rausgetwittert wird, auf die Goldwaage zu legen. Ich habe in meinem Leben durchaus auch schon mal das ein oder andere verhandelt, auch mit eitlen Kontrahent*innen, und ich wüsste nicht, wie das dem Volk oder den Verhandlungspartnern in irgendeiner Form nutzen sollte, wenn in der Bildzeitung regelmäßig der Score berichtet wird, wer gerade womit wieder gescheitert ist. Ich denke übrigens nicht, dass man sich wundern sollte, dass nur die ganz großen Irren und aus Versehen Angela Merkel überhaupt oben ankommen, wenn unsere "Leitmedien" an nichts mehr Spaß haben, als Funktionsträger vorzuführen. Was mich zu Markus Lanz führt, wo ich ja niemals hinwollte. Ich sage jetzt etwas Unpopuläres: Dem ist sein Job über den Kopf gewachsen, passiert den Besten. Es ist schon Tage her, Wochen vielleicht, aber das Interview mit Kevin Kühnert, das man bestimmt noch in der Mediathek findet, nein, das war ganz kleines Tennis. Ich weiß auch gar nicht, wie die Leute auf die verrückte Idee kommen, dass sie es mit ihrer genialen und nicht besonders subtilen Interviewtaktik schaffen könnten, dass ein Berufspolitiker sich vor laufender Kamera hinsetzt und sagt: "Nein, der Olaf ist ganz fürchterlich, das ist das Ende der SPD, ach, was rede ich, das Ende Deutschlands. Europas. Welt." Das sagt niemand. Das sind Profis. Und die haben Profis, die mit ihnen die Storyline üben, oder, das neu gelernte Lanzwort: das Narrativ. Zwinkersmiley. Und selbst wenn es alle 100 Jahre mal vorkommt, dass jemand etwas sagt, was nicht hätte gesagt werden sollen, dann war das, wie im Falle Klimaministerium bei Lindner oder dem kurzen Aussetzer von Merkel bei Will, vermutlich so geplant. Oder man hat halt Glück gehabt. Aber will man seine Fernsehkarriere wirklich auf Glück basieren, wenn die Alternative, nämlich "normal" so aussieht, dass man 8 Anläufe braucht, um das rauszuholen, was man hören möchte (wobei alle, inklusive Interviewopfer, spätestens beim zweiten Anlauf wissen, was jetzt auf absolut keinen Fall mehr gesagt werden kann), um DANN, und das war wirklich schmerzhaft anzusehen, als letzte Karte zu fragen: "Also ist Olaf Scholz der allerbeste Kanzlerkandidat, den Sie sich vorstellen können?" Ich kenne diese Situation im Gespräch. Das ist der Punkt, an dem man weiß, dass man gewonnen hat, danach kommt nix mehr. Wenn ich Kühnert gewesen wäre, hätte ich Lanz die Ghettofaust angeboten. Good game, good game. Und weil ich, wie Sie sich das sicher vorstellen können, wenn Sie hier aufmerksam lesen, von dem Linksrutsch noch nicht vollumfänglich überzeugt bin und mir denke, ein bisschen was ginge da sicher noch, möchte ich ein Video meiner Fastlieblingsband teilen, nämlich Pigor singt, Eichhorn muss begleiten und der Ulf. Das Lied kennt 2029 jeder.

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